Vierzig Anschläge pro Sekunde

Die Musik von Conlon Nancarrow | Julian Weber

»Time is the last frontier in music«, sagte der amerikanische Komponist Conlon Nancarrow über seine Stücke für Selbstspielklavier. Als republikanischer Freiwilliger kämpfte er im spanischen Bürgerkrieg. Im Exil in Mexiko arbeitete er später an Kompositionen, die – jenseits von Zwölftontechnik und Serialismus – zur Fortentwicklung der Musik im 20. Jahrhundert beitrugen.

»Ich klammerte mich daran wie an ein eisernes Gitterwerk, um nicht den Halt zu verlieren. Ich suchte eine augenfällige Entsprechung zwischen den Linien, die ich aus den Kristallen herleitete, und den ehernen harmonischen Mitteilungen. Ich kam dazu, die Winkellinien schöner Figuren zu stanzen. Das Bild von Pentagrammen und Bienenwaben ging in den Raster aus Zeitmaß und chromatischen temperierten Tonfolgen ein.«Hans Henny Jahnn, Fluß ohne Ufer

Die literarische Figur des Gustav Anias Horn in Jahnns Romantrilogie Fluß ohne Ufer trägt Züge des amerikanischen Komponisten Conlon Nancarrow (1912–1997). Jahnn hat den Tonsetzer Horn unter anderem nach Südamerika kommen lassen; Nancarrow lebte mehr als 50 Jahre im mexikanischen Exil und arbeitete dort in relativer Abgeschiedenheit von der etablierten Musikwelt an seinen Stücken, einer mathematisch abstrakten Musik. Nancarrows Klangwelt ist komplex, seine Musik kann kaum von Menschenhand gespielt werden. Nicht die Finger huschen bei ihm über die Tasten, die Tasten werden von den Hämmern des Klaviers selbst bewegt. Nancarrows lebenslange Beschäftigung mit der Funktion mechanischer Klaviere führte ihn zu einer höchst komplizierten und konstruierten Kompositionstechnik. Wie Jahnns literarische Figur war Nancarrow besessen von den Möglichkeiten des »Maschinellen« in der Musik. Er stanzte seine Kompositionen in mühevoller Kleinarbeit in perforierte Partiturrollen, so genannte Punching Scores, für mechanische Selbstspielklaviere (Playerpianos). Manchmal waren auf diesen Scores bis zu 40 Anschläge pro Sekunde zu verzeichnen und Nancarrow brauchte acht Stunden, um eine einzige Sekunde Musik zu erschaffen. Seine Kompositionen, »Studies for Player Piano« genannt, sind verschachtelte Partituren mit vertrackten Taktzahlen, ungewöhnlichen Polyrhythmen und vielfach hohen Tempi.

Obwohl die Geschwindigkeit rasend ist, bleibt jeder einzelne Ton nuanciert. Nancarrows musikalische Ästhetik ist linear. Sein Klangideal entsprach einem möglichst präzisen, harten, metallischen, fast cembaloartigen Anschlag. Das Mechanische verdrängt dabei aber nie die Emotionalität. Obwohl sein Werk erst in den achtziger Jahren wiederentdeckt wurde, gehört Nancarrows Musik zur amerikanischen Moderne. Sie erinnert an die Stadtszenen im Stummfilm der zwanziger Jahre, genauso wie an die Musik früher Comic Strips. 500 unwohltemperierte Klaviere on Speed.

Bei Nancarrow finden sich Anklänge an den Jazz ebenso wie an populäre Musiken aus aller Welt, vor allem Momente äthiopischer und indischer Musik. Er bewunderte die Polyphonie von Johann Sebastian Bach und mochte den Boogie eines Jelly Roll Morton oder Louis Armstrong. Und von seinen Zeitgenossen hat ihn, wie er seinem Biograph Jürgen Hocker berichtet, »Strawinskys ›Le Sacre Du Printemps‹ schlicht umgehauen«. Die Werke der klassischen romantischen Komponisten von Haydn bis Chopin waren für Nancarrow jedoch ohne Bedeutung. Zeit- und Geschwindigkeitsverhältnisse einzelner Stimmen haben in seiner Musik absolute Priorität vor Harmonien und Melodien. »Das 19. Jahrhundert in Europa ist für mich ein blinder Fleck, ich lehne es nicht ab, aber es langweilt mich«, sagt er Hocker einmal.

Ich ertappte mich dabei, daß meine Augen in den Weltenraum hinausstrebten, von Stern zu Stern eilten, ein dumpfer Versuch meines Hirns, Abgründe schwarzen Nichts oder, wie jemand gesagt hat, die Diamantgebirge der Gravitation zu durchstreifen.

Nancarrow wurde 1912 in Texarkana, einer Grenzstadt zwischen Arkansas und Texas im so genannten »Dustbowl«, künstlerisch im absoluten Niemandsland, geboren. Sein Vater war Kaufmann und Kommunalpolitiker, die Familie war konservativ und unmusikalisch. Im Elternhaus gab es allerdings ein Playerpiano, das große Anziehungskraft auf Nancarrow ausübte. Seine Eltern seien Musikliebhaber gewesen, gibt er in Interviews an, auch Schallplatten habe es zuhause in rauen Mengen gegeben.

Schon früh geriet Nancarrow mit Autoritäten aneinander. Sein Bruder Charles schildert ihn als wachen unruhigen Geist und als notorischen Schulschwänzer. Später sollte Conlon Nancarrow erzählen, dass er sein Wissen schon mit zehn Jahren vor allem aus »Little Blue Books« aus dem Verlag Haldeman-Julius bezog, Schundheftchen, vergleichbar mit den deutschen Lux-Lesebogen, in denen es um klassisches Denken, aber auch um Science Fiction, Anarchie und Sex ging. »Platons Dialoge, Henry David Thoreau, Umwelt contra Vererbung, das Leben von Voltaire, sind die Planeten bewohnt? Um solche Themen ging es. Die Heftchen waren in Arkansas die einzige Möglichkeit, um Bildung zu erwerben«, sagt Nancarrow.

Als er nach Cincinnati/Ohio ging, um am Konservatorium zu studieren, und später nach Harvard, unterbrach er sein Studium immer wieder, um in Tanzbands Trompete zu spielen. Eines von Nancarrows späten Lieblingsbüchern wurde nicht zufällig Ivan Illichs Entschulung der Gesellschaft (1971). Darin spricht sich Illich auf der Grundlage seiner Erfahrung als Reformpädagoge in New York, Puerto Rico und Cuernavaca (Mexiko) für selbstbestimmtes und schöpferisches Lernen und gegen die Institutionalisierung von Werten aus, die er von »Technokraten« beherrscht sah.

Anfang der dreißiger Jahre schrieb sich Nancarrow am Malkin Conservatory in Harvard ein; dort traf er vermutlich auch auf Arnold Schönberg, der in Harvard als Klavierlehrer arbeitete. Prägender soll laut Nancarrow jedoch die Zusammenkunft mit dem Dozenten Walter Piston gewesen sein. Piston paukte mit Nancarrow den Kontrapunkt und machte ihn mit den Ideen des Kommunismus vertraut. »Wir organisierten dieses Konzert in der Boston Symphony Hall: Ein Lenin-Gedächtniskonzert mit allen Arten ernster Musik, aber es war vorwiegend eine politische Veranstaltung.« Nancarrow wurde kurzzeitig Mitglied der CPUSA, kehrte jedoch später, während und nach dem Zweiten Weltkrieg, der Partei wieder den Rücken.

Nancarrows Entwicklung als Musiker geschah in einem progressiven Umfeld, das von linken Intellektuellen, den humanistischen Ideen eines demokratischen Sozialismus und den modernistischen Lebensstilen, dem Jazz Age in den Metropolen der amerikanischen Ostküste geprägt war. Nancarrows kompositorische Arbeiten sind so auch komplementär zu den literarischen Erzeugnissen der zweiten Generation von Poeten des so genannten »Objectivism«: einer Gruppe um Schriftsteller wie Charles Olson oder George Oppen, deren Werke sowohl soziales Engagement als auch einen projektiven, abstrahierenden Umgang mit dem sprachlichen Material zeigten. Hier ging es weniger um literarische Mythen, als um die Beziehung von Sprache und »Wirklichkeit«, um Empirie und Sprachspiel. Das Diskrete und verschiedene Beobachtungen aus dem Alltagsleben flossen in die Gedichte ein. Wie George Oppen unterbrach Nancarrow seine künstlerische Tätigkeit aus politischen Gründen.

Zusammen mit anderen aus der sozial engagierten und intellektuell aufgeschlossenen Zwischenkriegsgeneration entschied sich Conlon Nancarrow im Alter von 25 Jahren nach einer Europareise (er hatte sich auf einem Ozeandampfer als Trompeter in der Schiffsband verdingt) und unter dem Eindruck eines Aufenthalts im faschistischen Deutschland zur Teilnahme am Spanischen Bürgerkrieg. Im Mai 1937 schloss er sich einer Artillerieeinheit der Abraham-Lincoln-Brigade an und kämpfte auf Seiten der Republik gegen Franco. Der Musiker Nancarrow wurde zum Blasen des Zapfenstreichs verdonnert, im Unterstand brachte er sich Französisch bei. Über die Hälfte der circa 5 000 in Spanien kämpfenden Amerikaner ließ ihr Leben, Nancarrow überlebte den Bürgerkrieg, er wurde verwundet und erkrankte schwer an Hepatitis. Er konnte sich nur durch eine abenteuerliche Flucht unter Deck eines Schiffes aus Spanien retten und rührte niemals wieder eine Trompete an.

Auch in den einsamsten Stunden wurde ich kein Anbeter der Maschine. Ich bewahrte meine Kälte gegenüber den Wundern der elektrischen Wellen, der Flugzeuge, Kriegsmaschinen, des Brückenbaus, der Wasserturbinen und Hochdruckdampfkessel.

Zurück in den USA, begegnete Nancarrow mannigfaltigen Schwierigkeiten. Da er seinen Pass in Spanien verloren hatte, beantragte er ein neues Dokument, dies wurde ihm mit dem Hinweis auf die »unerwünschten politischen Aktivitäten« in Spanien von den Behörden verweigert. Er schrieb einige Rezensionen für die Zeitschrift Modern Music, die Herausgeberin Minna Lederman kritisierte seine »Kompromisslosigkeit«. Ihr missfielen Aussagen wie: »Der kollektiv improvisierte Jazz wird am besten von fünf oder sechs Musikern ausgeführt. Offensichtlich kann für Seife nicht mit so einem kleinen Orchester geworben werden – das Publikum könnte denken, dass der Seifenproduzent sich kein größeres Orchester leisten kann; und wenn er nicht genug Kapital hat, wie kann die Seife dann gut sein?«

1940 emigrierte Nancarrow nach Mexiko, weil er die Politik der progressiven Regierung von Lázaro Cárdenas bewunderte. Er fasste in Mexiko D.F. Fuß, schlug sich mit Englischunterricht durch und lernte seine zweite Ehefrau, die Malerin Annette Margolis, kennen, eine Freundin von Anais Nin. In Mexiko wurde Nancarrow jahrelang vom FBI überwacht. Er war in der aufkommenden McCarthy-Ära kein Einzelfall. Zu seinen Bekannten gehörten das emigrierte und ebenfalls vom FBI überwachte Schriftstellerehepaar George und Mary Oppen, der Architekt und Riveraschüler Juan O’Gorman und der armenisch-amerikanische Komponist Charles Amirkhanian. Nancarrow glaubt, dass er bis in die neunziger Jahre auf einer schwarzen Liste stand.

In Mexiko begann Nancarrow, sich nach und nach einzurichten und sesshaft zu werden. Erstmals baute er sich ein Studio und widmete sich darin hauptsächlich seiner kompositorischen Arbeit. Mit Hilfe einer Stanzmaschine konnte er die metrische und rhythmische Komplexität und die Kompositionsdichte erhöhen. In den vierziger Jahren baute er auch an einem automatischen Perkussionsorchester, das von zwei Playerpianos betrieben werden sollte.

Die gräßliche Qual meiner Mühe, etwas Musikalisches zu leisten, zermürbte mich. Die Tränen saßen hinter meinen Augen. Und meine Wünsche, meine unsäglichen Träume verwüsteten meine Gegenwart.

Erst in den späten fünfziger und sechziger Jahren wurde Nancarrow aus seiner Isolation gerissen und traf auf Gleichgesinnte wie den Komponisten John Cage. Wirkliche Verbreitung fand Nancarrows Musik aber erst in den achtziger Jahren. 1981 erhielt er ein Stipendium der MacArthur Foundation. Nancarrow hatte über all die Jahre eine große Scheu vor der Öffentlichkeit entwickelt. Seine Bewunderung für den »mysteriösen«, in Mexiko unter dem Namen B. Traven untergetauchten Schriftsteller Ret Marut ist durchaus nicht kokett gewesen.

Jürgen Hocker, Begegnungen mit Conlon Nancarrow, 283 Seiten mit CD, Mainz: Schott, 2003.

Hans Henny Jahnn, Fluß ohne Ufer, Romantrilogie, Hamburg: Hoffmann und Campe 1998.

Mary Oppen, Meaning a Life, San Diego: Black Sparrow Press, 1998.

Peter N. Carroll, The Odyssey of the Abraham Lincoln Brigade. Americans in the Spanish Civil War, Stanford: University Press, 1994.