Einstürzende Favelas

Fernando Meirelles »City of God« ist postmodernes Protestkino. von tobias nagl

Wer so furios beginnt, dem kann es an Selbstvertrauen wahrlich nicht mangeln. Jeder Schnitt ein Schnitt: Ein Messer wird gewetzt, ein Huhn im Montage-Stakkato geschlachtet und in den Suppentopf einer Straßenküche verfrachtet. Jemand mixt Drinks im Samba-Rhythmus. Noch könnte es sich hier um einen x-beliebigen Werbespot handeln, der Armut als authentische Kulisse für irgendein Produkt ausbeutet – wäre die Darstellung nicht so makaber und blutig. Nur wenige Einstellungen später laufen die Dinge in Fernando Meirelles’ Favela-Epos »City of God« vollends aus dem Ruder. Ein Huhn befreit sich und flüchtet, hektisch umherflatternd, vor einem die Straße entlang donnernden Laster, während eine bis an die Zähne bewaffnete johlende Gang und mit ihr die Kamera die Verfolgung aufgenommen haben. Kurz darauf befindet sich ein völlig Unbeteiligter zwischen den feindlichen Fronten eines Bandenkriegs: Buscapé, der Erzähler. In einer hyperkinetischen Fahrt umzirkelt die Kamera den »eingefrorenen« Mann, und aus diesem Taumel hebt eine vielfach gebrochene Flashback-Narration an, in der ein Mensch kaum mehr wert ist als ein Huhn.

Die Cicade de Deus ist eine reale Baracken-Neubausiedlung am Rande von Rio de Janeiro. Hier, inmitten von kleinkriminellen Gangs und schießwütigen Kindern, wächst Buscapé (Alexandre Rodrigues) in den sechziger Jahren auf und träumt davon, einmal Fotograf zu werden.

Anfang der siebziger Jahre boomt der Marihuanahandel, und die ehemaligen Kindergangster Dadinho und Bené wissen ihn für sich zu nutzen. Als Ende der siebziger Jahre Disco die alte Funk- und Samba-Begeisterung ablöst, wird Kokain zum großen Geschäft. Die Gang der beiden setzt sich mit brutalsten Mitteln im Drogengeschäft durch; für die Favela-Bewohner wird Alltag damit zunächst sicherer. Als sich der eigentlich gutmütige Bené dann an seinem 18. Geburtstag aus dem Business zurückzieht, beginnt das Imperium der beiden zu bröckeln.

Auf sich allein gestellt, vergewaltigt der frustrierte Psychopath Dadinho die Freundin von Mane, einem Busfahrer, und tötet dessen Bruder. Als Mane Rache schwört, weitet sich die Auseinandersetzung zu Beginn der achtziger Jahre zu einem der blutigsten Bandenkriege der brasilianischen Geschichte aus. Die heraufziehende Apokalypse erleben wir durch Buscapés Kameralinse. Indem er ein paar authentische Bilder vom Kriegsschauplatz schießt, kann er sich zwar als Fotograf etablieren – aber zu einem hohen Preis: dem Verzicht auf die journalistische Wahrheit. Als Buscapé das Ghetto verlässt, stehen bereits mordlüsterne Kindern bereit, in die Fußstapfen ihrer Brüder zu treten. »Ich kiffe, ich schnupfe, ich habe getötet und gestohlen«, hatte sich ein Kind zuvor gerühmt, »also bin ich ein Mann!«

Was Virtuosität im Einsatz filmischer Mittel, Erzähltempo und politische Intelligenz angeht, sucht »City of God« im heutigen Kino sehr lange nach seinesgleichen. Nach Paulo Lins episodischem Romanbestseller-Roman »Cicade de Deus« mit Laiendarstellern gedreht, erzählt der ehemalige Werbefilmer Meirelles eine drei Dekaden umfassende, vor Details und verschachtelten Subplots überbordende Bandengeschichte, die immer wieder den begeisterten Vergleich mit Martin Scorseses »Good Fellas« auf sich gezogen hat. Nicht zu unrecht. Selten ist das postmoderne Genrekino so klug für eine Allegorisierung sozialer Ausschlussmechanismen in Beschlag genommen worden. Im Unterschied zu Scorsese aber dient ihm die Mafia nicht als Spiegel der bürgerlichen Gesellschaft: In der Welt, von der Meirelles erzählt, hat die Mafia diese längst abgelöst. In den Favelas regiert das Recht des Stärkeren, und zur Genauigkeit Meirelles’ zählt auch, dass er noch darin eine Rechtsetzung erkennt.

»Der Film hat tatsächlich viel mit ›Good Fellas‹ zu tun«, erzählt Fernando Meirelles im Gespräch. »Nicht unbedingt, wie wir gedreht, sondern wie wir das Script geschrieben haben. Beide Filme erzählen eine Geschichte, die 15 Jahre umfasst, beide Filme reden über die Mafia auf der einen und Drogendealern auf der anderen Seite. Und in beiden Filmen wird die Geschichte von einer Person erzählt, die etwas außerhalb der Geschichte steht. Beide Filme haben viele Figuren, viele Geschichten, viele Plots. So gesehen, macht der Vergleich natürlich Sinn.«

Allerdings, so meint Meirelles weiter, könnte man seinen Film genauso gut mit Gillo Pontecorvos »The Battle of Algiers« vergleichen. Der sympathisch kühne Vergleich mit einem der einflussreichsten Klassiker der politisiserten Filmpraxis der sechziger Jahre verwundert allerdings. Denn der Unterschied zwischen einem Film wie »City of God« und den Brechtschen Konzepten, die südamerikanische Filmemacher wie Glauber Rocha oder Fernando Solanas im Anschluss an das Kino von Gillo Pontecorvo in den siebziger Jahren propagierten, könnte kaum größer sein. Ging es den Protagonisten des cinema novo oder des third cinema damals um eine bewusst anti-illusionistische »Ästhetik des Hungers«, die mit den ideologischen Identifikationsmechanismen Hollywoods brechen sollte, hat Meirelles die Lektionen des großen Kinos bestens gelernt. So brutal sich sein Film auch gelegentlich gibt, vermittelt er trotz aller Attacken auf die Nerven des Publikums stets die wattierte Geborgenheit der nahtlosen filmischen Großerzählung. »Ich glaube schon, dass ich Teil einer neuen Generation von Regisseuren im brasilianischen Kino bin«, erklärt sich Fernando Meirelles. »Aber ich und ein paar andere wie Beto Brant oder Walter Salles machen noch immer politische Filme. Ich glaube, dieses neue Kino ist politisch, aber nicht dogmatisch. Der Unterschied zwischen den großen Filmen der sechziger Jahre und unseren Filmen ist einfach, dass wir etwas publikumsfreundlicher sind.

Die Kritik in Brasilien nahm das erst mal übel. »Als ›City of God‹ in Brasilien anlief, meinten viele Kritiker, der Film sei zu stylish und zu kommerziell«, erzählt Meirelles über die wechselvolle Rezeptionsgeschichte seines Filmes, den er ausschließlich aus den Einnahmen finanzierte, die er mit seinen Arbeiten für die Werbung erwirtschaftet hat. »Aber nach einigen Wochen und Monaten haben wir genau das Gegenteil erlebt. Kein anderer Film in den letzten zwanzig Jahren hat so viele Kritiken und Diskussionen im Fernsehen und in den Gewerkschaften und Universitäten provoziert. Selbst die Präsidentschaftskandidaten befassten sich damit. Lula da Silva hat den Film gesehen, noch bevor er in die Kinos kam – und er redete in seinen Ansprachen über ihn. Und auch unser damaliger Präsident Fernando Henrique Cardoso bat uns, nach Brasilia zu kommen und ihm den Film zu zeigen. Der Film wanderte so aus dem Feuilleton in die Politressorts. Er wurde fast zu einem politischen Ereignis. Vier Minister, drei Sekretäre des Bundesstaats Rio de Janeiro und der Bürgermeister von Rio haben jetzt in der Cicade de Deus ein sehr weit gehendes Sanierungsprogramm für die Slums verabschiedet. Ich bin mir ganz sicher, dass sie sich die Cicade de Deus wegen meines Films ausgesucht haben. ›City of God‹ wurde zum Symbol für all das, was sich in Brasilien ändern muss. Die Regierung versucht zwar seit jeher, den Drogenhandel zu bekämpfen, aber es ist immer dasselbe: Die Polizei wird besser ausgestattet, neue Helikopter und Waffen werden angeschafft. Das sind aber alles nur neue Mittel der staatlichen Repression.«

Zum ersten Mal in der brasilianischen Geschichte wird nun aber versucht, nicht in den sozialen Ausschluss, sondern in Integration zu investieren. Schulen, Sportzentren, Kulturzentren, Arbeit. »Wenn ich meinen Film im dokumentarischen Stil der sechziger Jahre gedreht hätte, wäre all das nicht passiert und nur 50 000 Leute hätten sich den Film angeschaut. Dann wäre ich nicht hier, um mit Ihnen zu sprechen. Gar nichts wäre dann passiert.«

»City of God«, Brasilien 2002, R: Fernando Meirelles. Bereits angelaufen