Schluss mit gemütlich

Ein Generalstreik rüttelt Österreich auf. Der Konsens der Zweiten Republik ist durch Schüssels Rentenpläne bedroht. von amon brandt, wien

Auf einmal waren sie da, als seien sie aus dem sommerlich erhitzten Wiener Asphalt gesprossen, als hätten sie darunter die letzten 50 Jahren geschlummert, darauf wartend, ihre freudige Botschaft zu verkünden: Es ist Streik. Endlich. Mit in anarchistischem Schwarz-Rot gehaltenen Flugblättern ruft der Österreichische Gewerkschaftsbund (ÖGB) zum so genannten »Abwehrstreik« gegen die so genannte »Pensionssicherungsreform« der rechtskonservativen Regierung von Wolfgang Schüssel auf. Für einen Vormittag standen in der vergangenen Woche alle Räder still. Für die Großkundgebung am Dienstag dieser Woche auf dem Wiener Heldenplatz direkt vor dem Bundeskanzleramt organisierte der ÖGB neun Sonderzüge.

Was ist passiert, dass sich die Bürger gegen eine Regierung erheben, die sie noch vor einem halben Jahr überraschend deutlich bestätigt haben? In den letzten fünfzig Jahren ließ sich die Streikzeit der Österreicher nur in Sekunden messen. Und nun führen sogar viele das Wort vom »Generalstreik« im Munde. Die von der Regierung vorgeschlagene Umgestaltung des Pensionssystems hat der Großteil der Bevölkerung als Schock erlebt. Auf den Zeitungsständern leuchten die Horrorvisionen in schillernden Ziffern von den Titelseiten: »Minus 20 Prozent! Minus 38 Prozent!«

Keine zwei Monate vergingen seit der neuerlichen Koalitionsbildung zwischen der konservativen Volkspartei (ÖVP) von Bundeskanzler Schüssel und den stark zusammengeschrumpften rechtspopulistischen Freiheitlichen (FPÖ) von Jörg Haider, bis ein fundamentaler Umbau der Sozialsysteme vorgestellt wurde, der das endgültige Ende der Zweiten Republik einzuläuten scheint.

Zum einen müssen sich alle, die noch nicht das sichere Ufer der Pension erreicht haben, ihren Lebensabend mit empfindlich niedrigerem Lebensstandard neu ausmalen. Wer jünger als 45 Jahre ist, muss mit Abzügen von über 40 Prozent bei der Rente rechnen. Zum anderen müssen alle ein wenig länger auf den Segen des Ruhestandes warten.

Frühpensionen, der altbewährte Mechanismus der letzten zwanzig Jahre, um Jugend- und Altersarbeitslosigkeit zu vermeiden, werden abgeschafft. Das wird die Zahl der Arbeitslosen noch weiter erhöhen. Gleichzeitig wird die Reform die Armut vor allem der Frauen steigern.

Zu allem Überfluss betrifft die Reform nur die ohnehin schlecht besoldeten Arbeiter und Angestellten. Beamte und Bauern, die Klientel der ÖVP, werden ausgespart. Zusatzversicherungen, die sich nur Wohlhabende leisten können, werden dagegen massiv gefördert. Damit fällt das Solidarprinzip.

Wegen der fast uneingeschränkten Zustimmung der Bevölkerung und der vermeintlichen Schwäche des Koalitionsparners konnte Schüssel seine Vorschläge unterbreiten und darauf hinweisen, dass jeder Widerspruch zwecklos ist. Damit wird nicht nur dem Sozialstaat in seiner sozialdemokratischen Ausprägung der siebziger und achtziger Jahre der Garaus gemacht, sondern auch der Art und Weise des politischen Handelns, das unter dem Begriff der »Sozialpartnerschaft« berühmt-berüchtigt war.

Die Gewerkschaften haben im Rahmen der Sozialpartnerschaft gemeinsam mit den Arbeitgeberverbänden die sozialen Systeme der Zweiten Republik aufgebaut. Nun ist viel die Rede vom Ende der »Konsensdemokratie«, das von linken und liberalen Intellektuellen sowie von der Rechten immer ersehnt wurde. Tatsächlich ließ die bedrückende Konsensgesellschaft jede öffentliche Debatte verwelken und brachte das Phänomen Jörg Haider hervor.

Haider, der Verfechter der Dritten Republik, müsste angesichts der politischen Entwicklung froh gesinnt sein. Doch in den letzten Monaten saß er mit hoch rotem Kopf in seiner Klagenfurter Residenz und sann auf Revanche für die letzte Wahlniederlage. Er träumt davon, mit seiner Partei zu neuen Höhenflügen anzusetzen. Die Koalition mit Schüssel empfindet er als eine »Aktion Wählervertreibung« für seine Partei. Die Reform zu stoppen, wäre die Chance, sich wieder zu profilieren und die »kleinen, anständigen Leute«, die er an Schüssel verloren hat, heimzuholen.

Denn der Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei, Alfred Gusenbauer, sucht nach einer Mehrheit gegen das Gesetz, das Schüssel als einfaches »Budgetbegleitgesetz« durch den Nationalrat zu schummeln dachte. Der Sozialdemokrat wiederum verhehlt nicht, dass er in diesem Punkt zu einer Zusammenarbeit mit den Freiheitlichen bereit ist.

Vorsichtshalber macht Haider sich bereits auf die Suche nach mindestens fünf Mitstreitern, um die Regierungsmehrheit zu brechen, und baut damit unverhohlen vor Schüssel eine veritable Drohkulisse auf: »Gusenbauers Angebot muss abgestimmt sein für die Möglichkeit neuer Mehrheiten.« Dies ist eine ungeheuerliche Vision: eine Koalition zwischen Rot und Blau.

Gleichzeitig demontiert er seinen Parteichef Herbert Haupt, der als Vizekanzler neben Schüssel auf der Regierungsbank sitzt und dem man nachsagt, dass er das Kunststück vollbringe, im Liegen umzufallen.

Haupt schwankt währenddessen zwischen Schüssel und Haider hin und her. Vergangenen Freitag war die Zeit reif für einen neuerlichen Schwenk: Haider lud die Parteifunktionäre in den Wiener Rathauskeller zur »Pensionskonferenz« und stellte Haupt unmissverständlich vor die Wahl, zu kuschen oder als politische Leiche gleich dazubleiben. Hinterher verkündet Sigisbert Dolinschek, einer von Haiders fünf Mannen im Parlament, im Gespräch mit der Jungle World: »Wir haben sie überzeugt!«

Schüssel scheint in diesem Chaos vollends den Überblick verloren zu haben. Schien es Anfang des Jahres, als sei er das größte politische Talent der österreichischen Politik, dessen Meisterstück – die Entzauberung Haiders durch schamloses Kopieren – Freund und Feind in Ehrfurcht versetzte, steht der Bundeskanzler nun fassungslos vor einer mächtigen Kampagne.

Und dagegen helfen auch nicht altbewährte Strategien oder das Versprechen, er werde sich der Straße nicht beugen. Aber was, wenn diese Mehrheit auf der Straße steht? Die Macht der Sozialpartner will er beenden. Aber was, wenn die Bürger derzeit in ihnen den Garanten dafür sehen, dass es ihnen in Zukunft nicht an den Kragen geht? Opferbereitschaft zur Sicherung der Pensionen ist an jeder Straßenecke anzutreffen. Und hatte Schüssel nicht erst im Wahlkampf die Nachhaltigkeit seiner Reform gepriesen?

Am Ende überschlugen sich die Ereignisse. Das Boulevardblatt Kronenzeitung titelte: »Jetzt muss Klestil Frieden stiften!« Und tags darauf jubilierte sie: »Regierung isoliert: Jetzt hat Schüssel auch Klestil gegen sich!« Tatsächlich war der Bundespräsident dem Wunsch seines Freundes, des Krone-Herausgebers Hans Dichand, nachgekommen, hatte die Sozialpartner mitsamt Haider um sich geschart, die Pensionsreform für inakzeptabel und sich selbst solidarisch mit der Straße erklärt. Die Reform solle verschoben und neu verhandelt werden.

Schüssel muss zähneknirschend nachgeben. Die ungewöhnliche Popularität seiner neoliberalen Politik fängt dort an zu schwinden, wo er sich an die Verwirklichung seiner Sprüche macht. Langsam wird es ihm dämmern, dass Haider nicht am Ende ist, dass das System der Zweiten Republik, dessen Produkt Haider ist, noch kräftig und dynamisch genug ist, um zurückzuschlagen – oder zumindest als Farce zu überleben.