Ausstand für den Ruhestand

Die Streikbewegung in Frankreich ist spontan, noch fehlt es ihr an einer Koordination der Berufsgruppen. Die Gewerkschaften versuchen, sie zu zähmen. von bernhard schmid, paris

Unerwartet und schnell entwickeln sich in Frankreich soziale Bewegungen. Genauso blitzartig verschwinden sie aber wieder. Dies könnte auch für die Protestbewegung gelten, die am Dienstag der vergangenen Woche gegen die geplante Rentenreform der konservativen Regierung auf die Straße ging. Auf eine Million bezifferte die Polizei die Zahl der Teilnehmer an den landesweiten Protesten, von zwei Millionen Menschen sprachen die Gewerkschaften. Damit wäre das Niveau des Streikherbstes 1995 fast erreicht. Damals gelang es, an einem einzigen Tag mehr als zwei Millionen Menschen in ganz Frankreich auf die Straße zu bringen.

Nicht nur diese von den Gewerkschaften nur schwer kontrollierbare soziale Dynamik unterscheidet die Bewegung in Frankreich von den jüngsten Protesten in Österreich gegen die dortige Rentenpolitik. Wichtig ist zudem, dass im Falle Frankreichs die extreme Rechte sich nicht bei der Bewegung anzubiedern versucht. »In Frankreich muss mehr und länger gearbeitet werden«, sagt etwa Jean-Marie Le Pen.

Am kämpferischsten zeigen sich bei den Protesten die Lehrer. Viele von ihnen im Großraum Paris und vor allem im Vorstadtbezirk Seine-Saint-Denis, aber auch in Toulouse oder Bordeaux sind bereits seit sechs Wochen im Ausstand. Sie wehren sich gegen die Pläne der Regierung, dass die Beitragszahler länger in die Rentenkasse einzahlen sollen und zugleich die Höhe der Renten gesenkt werden soll.

Außerdem geht es gegen die Vorhaben der Regierung in der Bildungspolitik. Bildungsminister Luc Ferry plant, rund 25 000 Stellen für Betreuer abzubauen. Diese waren bisher meist Studierende. Sein Programm zur Dezentralisierung sieht zudem vor, die Zuständigkeit für 110 000 Stellen von Schulärzten, Psychologen, Krankenschwestern und anderen Schulbeschäftigten von Paris auf die französischen Regionen und Bezirke zu übertragen. Daher befürchten die Lehrer eine verstärkte Ungleichheit im Bildungsbereich, je nach Finanzkraft der Regionen oder Départements. Deswegen ist die Protestbewegung auch in den ohnehin benachteiligten Pariser Vorstädten besonders stark.

Ende März begann der Ausstand im Département Seine-Saint-Denis. Er dauert bis heute an, obwohl es keine Streikkassen gibt, aus denen die Lohneinbußen bezahlt werden könnten. Am 1. Mai wurden bereits 150 Schulen bestreikt, zwei Drittel davon in diesem Bezirk. Inzwischen sind es 700, davon die Hälfte im Pariser Umland.

Damit könnten die Lehrer eine ähnliche Rolle spielen wie 1995 die Eisenbahner und Beschäftigten der städtischen Transportbetriebe. Auch diese nehmen zwar wieder an den Demonstrationen teil, aber die Führung der Proteste dürften sie nicht übernehmen, da die Mitarbeiter der Bahngesellschaft SNCF sowie der Beschäftigten der städtischen Bus- und Metrounternehmen bisher nicht direkt von der geplanten Rentenreform betroffen sind.

Für die Transportarbeiter des öffentlichen Dienstes existieren eigene Rentenkassen, die von der Regierung wohlweislich aus der aktuellen Debatte ausgeklammert werden. Über ihre Zukunft werde »erst 2004« diskutiert, versichern Premier Jean-Pierre Raffarin und Sozialminister François Fillon. Eine Ankündigung, die beruhigen sollte und dennoch von den Betroffenen eher als Drohung aufgenommen wurde.

Am Abend des landesweiten Aktionstags der Gewerkschaften beschlossen vielerorts die Beschäftigen der SNCF sowie der Pariser Bus- und Metrobetriebe RATP, in den unbefristeten Streik gegen die Rentenreform zu treten. Ihr Unmut hängt ebenfalls mit der Austeritätspolitik zusammen. Das Wirtschaftsministerium hatte vor drei Wochen verkündet, dass vom kommendem Jahr an nur jeder zweite altersbedingte Abgang im öffentlichen Dienst durch eine Neueinstellung ersetzt werden solle – mit Ausnahme der Justiz und der Polizei.

Die aus Sicht der Gewerkschaftsführungen eigenmächtig durchgeführten Arbeitsniederlegungen bei der SNCF und der RATP wurden jedoch im Verlauf der vergangenen Woche durch den ehemals kommunistischen Gewerkschaftsbund CGT abgewürgt. Am Mittwoch lud der Gewerkschaftsvorsitzende Bernard Thibault die Genossen bei der RATP in die Zentrale des Dachverbands ein, um der Basis ihre Flausen auszutreiben.

Bei der Vollversammlung der RATP in der Pariser Vorstadt Pantin am Donnerstag voriger Woche war die Stimmung entsprechend angespannt. Als Gastredner waren Vertreter der streikenden Lehrerschaft, der ebenfalls im Ausstand befindlichen Finanzbeamten sowie protestierende Archäologen eingeladen. Hier, im Bezirk Seine-Saint-Denis, kam in den vergangenen Tagen am ehesten das zustande, was die Streikbewegung von 1995 geprägt hatte: eine die Berufsgruppen übergreifende Bewegung. Anderswo fehlte eine Zusammenarbeit bislang fast völlig.

Die Mehrheit der Anwesenden sprach sich an diesem Morgen für die Fortführung des Streiks aus und stimmte gegen die Delegierten der CGT sowie der christlichen Gewerkschaft CFTC. Nur die linke Basisgewerkschaft SUD unterstütze den Beschluss. Am selben Tag sprachen sich 13 von 18 Vollversammlungen der Pariser Metro für die Fortsetzung des Streiks aus.

Dennoch gab am folgenden Abend die RATP-Abteilung der CGT das Ende der Arbeitsniederlegung bekannt. Ähnlich verliefen die Dinge bei der Bahngesellschaft SNCF. Im Rangierbahnhof Villeneuve-Saint-Georges konnte der Delegierte der CGT an diesem Tag 70 zurückgegebene Mitgliedskarten in einem dicken Umschlag entgegennehmen.

Die Führung der CGT will den Streit um die Rentenreform nutzen, um eine entscheidende Stellung unter den Gewerkschaften einzunehmen. Denn die rechtssozialdemokratische Gewerkschaft CFDT, die bereits am Donnerstag das Vorhaben der Regierung nach einigen kleinen Verbesserungen akzeptierte, hat sich in den Augen der Streikenden diskreditiert. Daher erhofft man sich bei der kommunistischen CGT, den Konkurrenzverband als wichtigsten Verhandlungspartner der Regierung beerben zu können.

Die CGT ruft nun zu einer Demonstration am kommenden Sonntag in Paris auf. Der Termin soll den Beschäftigten in der Privatwirtschaft eine Teilnahme ermöglichen. Sie waren zwar schon bei den Demonstrationen am 13. Mai dabei, hatten aber kaum zu streiken gewagt. Drei Tage vor der Kabinettssitzung, bei der der letzte Schliff am Entwurf des Rentengesetzes vorgenommen werden soll, will die CDT den Druck erhöhen.

Das könnte gelingen, wenn sich eine Million oder mehr Menschen versammeln sollten. Aber gleichzeitig wird die CGT alles getan haben, um den Druck in die von ihr gewünschten Bahnen zu lenken. Statt einer bedingungslosen Aufgabe der Regierungspläne könnte am Ende auch ein Kompromiss stehen, den die aufrufenden Gewerkschaften als ihren Erfolg verkaufen können.