Bomben für die Heimat

Mit Selbstmordanschlägen in Saudi-Arabien und Marokko will al-Qaida die islamischen Gesellschaften spalten. von jörn schulz

Dein Haar ist zu lang und wir wollen es schneiden«, verkündete der Inspektor der Religionspolizei. Da der festgenommene Journalist der saudischen Tageszeitung al Watan gerade beobachten musste, wie ein anderer Verdächtiger geschlagen wurde, schien es ihm klüger, sich zu beugen und auch die geforderten fünf Riyal für den polizeilichen Zwangshaarschnitt zu zahlen. Eine rechtliche Handhabe gegen den Terror der Behörde, die sich um die Förderung der Tugend und die Verhütung der Sünde bemüht und gegen gottlose Videos, Zauberei, Gebetsverweigerung und anderes Teufelswerk vorgeht, gibt es nicht.

Kein Wunder, dass Ussama bin Laden Ende der siebziger Jahre dieser Religionspolizei beitreten wollte. Da er Kontakte zu dissidenten Islamisten hatte, wurde er abgewiesen. Zum endgültigen Bruch kam es 1990, als das Königshaus der Stationierung US-amerikanischer Truppen in Saudi-Arabien zustimmte. Dass diese Truppen nun bis auf das zur Wartung der US-Basen nötige Personal abziehen werden, beeindruckt al-Qaida jedoch nicht. Bei mehreren Selbstmordanschlägen starben am Montag der vergangenen Woche in Riad 34 Menschen.

Viel spricht dafür, dass diese Attentate zu einer zeitlich koordinierten Serie gehörten. Im jemenitischen Jibla explodierte eine Bombe in einem Gerichtsgebäude, in dem Tage zuvor ein islamistischer Attentäter zum Tode verurteilt worden war. In Marokko starben mindestens 40 Menschen bei Selbstmordanschlägen auf jüdische und westliche Ziele. Weitere Attentate in Tschetschenien und auf den Philippinen könnten ebenfalls auf das Konto des Netzwerks gehen.

Professionelle Terrorbekämpfer stehen derzeit vor einem Dilemma. Einerseits muss der Öffentlichkeit suggeriert werden, dass der mit gewaltigem militärischem Aufwand geführte und mit einer weltweiten Einschränkung der Bürgerrechte bezahlte »Krieg gegen den Terror« ein Erfolg ist. Andererseits soll auch vermittelt werden, dass weitere Anstrengungen nötig sind. Vor allem aber müssen Regierungen und Geheimdienste Kompetenz simulieren.

So verkündete das US-Außenministerium Ende April, dass die Zahl terroristischer Anschläge im vergangenen Jahr um 44 Prozent auf 199 gefallen sei. Allerdings ist der Rückgang vor allem auf den besseren Schutz kolumbianischer Pipelines zurückzuführen, der die Zahl der Angriffe um 137 im Vergleich zum Vorjahr reduzierte. Stolz meldet der Bericht die Verhaftung von 3 000 al-Qaida-Mitgliedern in aller Welt, ohne diese Zahl durch öffentlich zugängliche Beweise oder Gerichtsurteile belegen zu können.

Zweifellos haben Verhaftungen, Bombardierungen und die Störung finanzieller Transaktionen das al-Qaida-Netzwerk vorübergehend geschwächt. Dennoch ist die Zahl der Anschläge, die mit großer Wahrscheinlichkeit auf sein Konto gehen, seit dem 11. September 2001 deutlich gestiegen. Und dass nach Angaben der saudischen und marokkanischen Behörden insgesamt 19 Selbstmordattentäter an den Anschlägen beteiligt waren, spricht nicht für Personalmangel.

Die Organisationsform des Netzwerks macht al-Qaida schwer angreifbar. Angeschlossene Gruppen, die für die Mehrzahl der Attentate verantwortlich sind, treten offenbar nur selten in direkten Kontakt mit dem inneren Kreis der Führung. Strategische Anweisungen werden über Erklärungen Ussama bin Ladens und gelegentlich Zayman al-Zawahiris, des Ideologen und Strategen von al-Qaida, gegeben. Obwohl bin Laden möglicherweise längst tot ist und von der Führung des Netzwerks nur als Phantom benutzt wird, werden diese Stellungnahmen von islamistischen Extremisten als autoritativ anerkannt.

Die jüngsten bin Laden zugeschriebenen Erklärungen beschäftigen sich nicht allein mit »Juden und Kreuzfahrern«, sondern auch mit den islamischen Staaten. Wenn der von Gott versprochene Sieg sich verzögert, so bin Laden im Februar, »wird es wegen unserer Sünden sein«. Womit er nicht den Massenmord an Zivilisten meinte, sondern das Versäumnis, »unislamische« Herrscher zu stürzen. Im April rief bin Laden dann noch einmal ausdrücklich zum Kampf gegen die islamischen Verbündeten des Westens auf.

Ihre Weigerung, die Sharia einzuführen, und ihre Bereitschaft, mit »Ungläubigen« zusammenzuarbeiten, wird als Bruch der Shahada, des islamischen Glaubensbekenntnisses gewertet. Deshalb stehen sie außerhalb der Umma, der islamischen Gemeinschaft, und werden zum legitimen Ziel des Jihad. Die Exkommunikation gilt nicht allein der herrschenden Oligarchie. »Alle Muslime sind auch verpflichtet, diesen tyrannischen Herrschern die Anerkennung zu entziehen«, doziert bin Laden.

Muslimische Opfer islamistischer Anschläge sind also nicht bedauernswerte Kollateralschäden, sondern selbst legitime Ziele. Haben sie doch durch ihre Arbeit für einen westlichen Konzern oder die Regierung, durch den Besuch eines Nachtclubs oder die Anwesenheit in der Nähe einer Synagoge ihre mangelnde Distanz zum Unglauben bewiesen.

Anschläge wie die in Marokko und Saudi-Arabien bedürfen monatelanger Vorbereitung, sie sind keine Reaktion auf aktuelle Ereignisse wie den Irakkrieg. Die Konzentration auf Attentate in islamischen Staaten könnte eine pragmatische Reaktion auf verschärfte Sicherheitsmaßnahmen im Westen sein. Sie entspricht jedoch auch der Logik von al-Qaida, denn die Organisation hofft, durch exemplarische Gewalttaten die islamischen Gesellschaften zu spalten und Anhänger zu gewinnen. Das erste taktische Ziel ist es, die Enklaven der »Juden und Kreuzfahrer« zu isolieren. In Saudi-Arabien waren die Ziele abgeschirmte ausländische Wohnviertel, in Marokko unter anderem ein jüdisches Gemeindezentrum und ein spanischer Club.

Diese Strategie hat in Saudi-Arabien die größten Erfolgschancen, wo die al-Qaida-Ideologie die logische Konsequenz des Wahhabismus ist, der saudischen Staatsdoktrin. Er propagiert kulturelle Überlegenheit und fanatische Intoleranz gegenüber Anders- und Nichtgläubigen, aber das Königshaus handelt nur in der Innenpolitik nach dieser Maxime. Die Konfrontation mit dem überlegenen Westen ist aus wahhabitischer Sicht eine persönliche Demütigung, und die Schlussfolgerung, dass die männliche Ehre durch Gewalt wiederhergestellt werden muss, liegt nahe.

Auch die vergleichsweise liberale marokkanische Monarchie lässt jener knappen Hälfte der Bevölkerung, die das Privileg eines Schulbesuchs genießt oder genossen hat, ein konservatives nationalreligiöses Weltbild eintrichtern. Die Gesetzgebung aber ist weitgehend säkular, und als die Behörden im Frühjahr eine Gruppe von Hardrock-Fans als »satanische Sekte« aburteilen wollten, bildete sich eine große Solidaritätsbewegung. Ansätze einer säkularen, allerdings noch weitgehend unpolitischen Protestbewegung gibt es auch in Saudi-Arabien, wo die grundsätzlich verbotenen Flirts und öffentlichen Treffen Jugendlicher immer wieder zu Auseinandersetzungen mit der Polizei führen.

Pop, Hollywood und sexuelle Freiheiten sind für al-Qaida weit gefährlichere Feinde als FBI-Ermittler und B-52-Bomber. Anschläge im Westen dürften auch zukünftig auf dem Programm der Jihadisten stehen. Doch sie haben allein propagandistische Wirkung. Der für al-Qaida entscheidende Kampf findet in der islamischen Welt selbst statt.