Debord ist nicht tot!

Carlos Kunze berichtet vom Generalstreik in Paris

Montag, 12. Mai: Im Zug nach Paris kommt kurz vor der deutschen Grenze zu Frankreich eine Durchsage: »Wegen eines landesweiten Streiks bei der französischen Eisenbahngesellschaft SNCF wird von heute Abend 20 Uhr bis Mittwochmorgen der komplette Zugverkehr zwischen Deutschland und Frankreich entfallen. Wegen des Vorlaufs zum Streik entfallen bereits zahlreiche Züge im innerfranzösischen Verkehr.« Es geht los. Und einige Stunden früher, als ich erwartet habe.

Dienstag, 13. Mai: Generalstreik. Wegen Renten- und Schulreform. Eine große Demo wälzt sich quer durch Paris. Wo gibt’s Inhalte? Hier zum Beispiel. Ein Typ hält mir ein Flugblatt unter die Nase. »Viel Geld, weil ich zahlreich bin«, lautet der fett gedruckte Titel, unterzeichnet ist es von PAP – den Assoziierten Prekären von Paris.

»Die Industrie des integrierten Spektakulären und des immateriellen Kommandos schuldet mir Geld. Ich werde unnachgiebig sein, bis sie mir gibt, was mir zusteht«, heißt es da. »Für all die Male, wo ich im Fernsehen, im Kino oder im Radio aufgetaucht bin, als zufälliger Passant oder als Element der Landschaft, und wo mein Bild nicht bezahlt wurde. Für all die Male, wo meine Spuren, Inschriften, Graffiti, Anordnungen von Objekten im Raum ohne mein Wissen in Shows oder Fernsehnachrichten benutzt wurden. Für alle Male, wo mein Name und meine persönlichen Daten in den statistischen Berechnungen gratis herangezogen wurden, um das Angebot an die Nachfrage anzupassen. Für die Werbung, die ich regelmäßig mache, indem ich T-Shirts, Rucksäcke, Schuhe, Hemden trage, auf denen Marken und Slogans stehen, ohne dass mein Körper als Werbefläche entlohnt wird. Für all das und für viele andere Dinge schuldet mir die Industrie des integrierten Spektakulären Geld!«

Der Sound ist okay, Guy Debord nicht tot! Das gefällt mir besser als die Rentenformeln, mit denen die bürokratischen Organisationen agitieren – 37,5 Jahre, nicht unter 100 Prozent von irgendwas, etc. – ohne je den Rahmen gewerkschaftlicher Forderungen zu sprengen. Dabei ist doch klar, dass die Rentenpläne auf Rentenfonds hinauslaufen sollen. Also auf den schönen Plan, Börsencrashs dafür nutzbar zu machen, die »Alterslastquote« zu senken. Und die Szene mobilisiert zum G 8-Gipfel in Evian. Aber will ich abends mit den Prekären über ein »garantiertes Einkommen für alle« diskutieren? Ist das nicht allzu bescheiden? Es ist doch Streik!

In der Uni von Jussieu ist abends Streikversammlung. Eingeladen haben unter anderem die Gewerkschaft Sud und die anarchosyndikalistische CNT. Der Hörsaal ist mit etwa 300 Leuten rappelvoll, ich quetsche mich am Eingang. Aber es scheint nur Schulpersonal da zu sein, keine Schüler. Es geht auch nur um den Streik im Erziehungs- und Bildungswesen. Da funktioniert er eh.

Mittwoch, 14. Mai: Im 19. Arrondissement demonstriert das Schulpersonal des Bezirks. Vielleicht 300 Leute, in schwarz, vorne vier Trommeln, die dumpf und klagend dröhnen. So wollen sie das nationale Bildungswesen zu Grabe tragen. Naja. Aber in der Metro geht nicht viel – bei der Linie 11 soll statt alle fünf alle zwanzig Minuten eine Metro kommen, erklärt die Ansage. Das verursacht prima Staus. Es wird weiter gestreikt, jenseits der Schulen, das ist wichtig.

Im libertären Buchladen in der Rue Amelot frage ich, ob es irgendwo eine kritische Diskussion über die momentane Situation, über eine Ausweitung des Streiks und zugleich eine Radikalisierung der Inhalte gibt. Einer will mich an die Bourse de Travail schicken, wo ein »interprofessionelles Treffen« stattfinden soll. Da war ich eben, war nicht ergiebig: Ein paar Gewerkschafter von Sud, ein paar von der CNT, aber keine mir mitteilbaren Ergebnisse – vielleicht waren sie auch misstrauisch. Könnt’ ja jeder kommen. Etwas anderes ist den Leuten im Buchladen nicht bekannt.

Donnerstag, 15. Mai: Metrostation Jourdain. Die Fahrkartenverkäufer sind wieder da, aber die Absperrung zu den Bahnsteigen ist immer noch offen. Na prächtig. Unten ist ein Mordsgedrängel auf dem Bahnsteig, nach zehn Minuten kommt eine Metro, vollgestopft. Die Hälfte der Wartenden kann sich noch reinquetschen, der Rest wartet weiter, während neue Leute kommen.

Im »Hauptquartier« der CNT, einer Passage mit kleinen Häuschen. Alternativ-Touch mit schwarz-roter Fahne. Die CNT soll etwa 4 000 Mitglieder haben. Ich rede mit drei jungen Typen etwa Mitte zwanzig. Einer im Postlerhemd meint, in dem Arrondissement, wo er arbeitet, seien zwanzig von etwa 350 Postlern im Streik. Sie von der CNT und die von Sud hätten versucht, Versammlungen einzuberufen; aber das hätte nur in den einzelnen Ämtern geklappt, ohne Verbindung untereinander und nur mit geringer Beteiligung. Die früher der KP nahestehende CGT bremste. In ihrem Bezirk seien die CGTler hauptsächlich vom trotzkistischen Arbeiterkampf (LO), die bremsten auch und folgten der CGT-Bürokratie.

Aber bei der Metro, da ist die CGT doch die treibende Kraft bei den Streiks? »Das sind Aktivisten von der Basis, die sich nicht um die Anweisungen von oben kümmern«, meint er. Auf Landesebene seien immerhin Bahnarbeiter im Streik, sagt ein langer Schlaks, an dessen Brille ein Bügel fehlt. Im Privatsektor ist nicht viel los. Und die Prekären, die 1995 eine wichtige Rolle spielten? »Nur die von Emploi Jeune - Jugendliche auf auslaufenden ABM-Stellen - haben sich bislang in die Mobilisierungen eingeklinkt.« Wie geht’s weiter? »Montag soll Demo sein.« Und mit den Streiks? »Ich bin nicht optimistisch«, sagt er. »Aber jetzt machen wir erst mal ein Flugblatt.«

Freitag, 16. Mai: Individueller Generalstreik meinerseits.

Samstag, 17. Mai: Indymedia-Paris meldet, dass die Besetzung des Palais de Tokyo durch streikendes Schulpersonal fortgesetzt wird. Soll am Vorabend besetzt worden sein – anlässlich der dort laufenden Ausstellung »Hardcore, für einen neuen Aktivismus«. Um 18 Uhr soll jemand von der »emanzipierten Schule«, dem linken Flügel von der Lehrergewerkschaft FSU, sprechen, um 19 Uhr einer von der satirischen Wochenzeitung Charlie Hebdo, um 20 Uhr ein Roma aus der Vorstadt Montreuil.

»Kommt zahlreich, um unseren Kampf zu unterstützen«, heißt es. Besetzung? Von Abschiebung bedrohte Roma, die sich in Verbindung zu streikenden Lehrern setzen? Klingt interessant. Bis ich dort ankomme, tränen mir schon die Augen vor lauter Frankreich- und Europa-Flaggen, Reiterstatuen, Löwen mit und ohne Flügeln. Oder kommt das von den Pollen?

Das Palais de Tokyo befindet sich neben dem Museum für moderne Kunst. Draußen ein Werbeplakat zur Ausstellung. Eine Collage. Links oben ein Kopf mit Hasskappe. Rechts oben Schrift: »This is not Art – This is Europe.« Weiter unten eine Zielscheibe, auf der steht: »Everything is wrong.« Das ist nicht zu bestreiten. Dann die Namen beteiligter Künstler in roten Kästen. Und das Wichtigste: die Sponsoren. Zuerst die französische Republik bzw. ihr Kulturministerium, außerdem Pioneer, eine Bank und Corona, ein paar Kunst- und Kulturgazetten. Das Flugblatt der Prekären von Paris fällt mir ein.

Ich gehe in den noblen Bau. Ein paar Sicherheitsleute in dunkelblauen Overalls hängen am Eingang rum, die Kasse ist offen. Im Souterrain ist das Café, voll mit erschöpften Kunstbetrachtern. Aber wo ist die Besetzung? Ich spreche ein paar Leute an, keiner weiß was. Schließlich frage ich die Frau an der Kasse nach den Diskussionen, die hier sein sollen. Sie weiß von nichts, gestern sei irgendwas gewesen. Der Security-Typ schaut mich finster an.

Schade. Kein langfristig besetzter Ort, wo verschiedene Segmente sich neu in die Mobilisierungen einklinken könnten und Raum für offene Diskussion wäre. Am Montag soll’s weitergehen. Demonstration, Streiks im öffentlichen Sektor.

Das vollständige Flugblatt und weitere Texte der Assoziierten Prekären von Paris finden sich unter: www.ouvaton.coop