Ein chinesisch-jüdischer Trampler auf Gefühlen

In Zadie Smiths »Autogrammhändler« trifft sich das postmoderne Groschenheftchen mit dem Bildungsroman und geht auf kulturelle Spurensuche. von alex bohn
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Alex Li Tandem ist die prototypische Aufstellung eines gewöhnlichen jungen Mannes: Jede Spielart des Eskapismus ist ihm recht, seine Egozentrik ebenso unreflektiert wie unangefochten. Will heißen: er säuft, sagt ja zu Drogen, verehrt statt seiner langjährigen Freundin eine unerreichbare Hollywood-Aktrice der Vierziger und hält sich selbst für den tragischen Held des eigenen Filmscripts, genannt »Leben«. Folgerichtig lautet sein ironisches Motto: Lebe immer in der Vergangenheit und bereue alles.

Alex Li Tandem stammt aus Nordlondon und gibt den Protagonisten in Zadie Smiths zweitem Roman »Der Autogrammhändler«. Richtig. Das Fräuleinwunder legt nach. Ihr Debüt »Zähne zeigen« hat Smith vor drei Jahren in den Himmel der literarischen Hoffnungen erhoben. Erstaunlich, hieß es, dass eine so junge Frau (damals: 24) bereits ein so kluges Buch zu schreiben imstande sei. Endlose Interviews, Besuche in Talkshows und ein über Nacht generierter Status als Quasi-Popstar. Damit muss eine, die ihren Roman als Feierabendbeschäftigung während der Examina am Londoner King’s College geschrieben hat, erstmal umgehen.

Smith entwirft Charaktere, die eine veritable Rolle in den besseren Vorabendserien der Nation haben könnten. Charaktere, die wissen, wo es lang geht und wo nicht. Die Sex haben oder nicht, die Geld machen oder nicht. Sie sind zugänglich und verständlich, aus dem Leben gegriffen. Dass sie nicht austauschbar oder beliebig erscheinen, liegt am smarten Sicherungssystem der Autorin, einer Art ethnischer Wild Card: Jeder Charakter agiert vor seinem speziellen ethnischen und kulturellen Hintergund und dessen Implikationen für Wert- und Moralvorstellungen.

Enter »Der Autogrammhändler«: Der Protagonist Alex Li Tandem ist in unaufhörlicher Spätadoleszenz gefangen. Er durchleidet die volle Breitseite postmoderner Werteerosion und sieht sich gleichzeitig konfrontiert mit den Rudimenten seiner eigenen kulturellen und religiösen Herkunft und Identität. Für Zadie Smith ein herrliches Spannungsfeld.

Alex Li Tandem kam der Bezug zu seinen Wurzeln bereits in Kindertagen abhanden, mit dem vorzeitigen Tod seines Vaters. Was bleibt, ist ein bruchstückhaftes Medley chinesisch-jüdischer Kultur. Li Tandem besucht standesgemäß den chinesischen, nicht aber den Schulmediziner. Seinem jüdischen Hintergrund gegenüber ist er zwiegespalten. Zwar versucht er, mittels eines selbstverfassten Monumentalwerks die Welt als solche in jüdisch und nichtjüdisch zu teilen: »Jüdische Büromaterialien: Tacker und Stiftablage, nichtjüdische Büromaterialien: die Büroklammer, das Mousepad, jüdische Bäume: Ahorn, Pappel, Birke, nichtjüdische Bäume: Eiche, Rosskastanie.« Aber der Aufforderung, zum Todestag seines Vaters den Kaddisch zu beten, folgt er nur widerwillig.

Sinnstiftender Dreh- und Angelpunkt seines 27jährigen Lebens ist eine Götzenverehrung, die bei ihm Beruf und Berufung zugleich ist. Seit er am Todestag seines Vaters mit der Idee des Autogrammsammelns und -handelns vertraut gemacht wurde, bleibt er dieser treu. Er ist »der Autogrammhändler«.

Seine private Obsession gilt einer Hollywood-Darstellerin namens Kitty Alexander, die zur Zeit der Garbo ähnlichen Status besaß. Seit Alex 14 ist, ersucht er jene Kitty vergeblich um ein Autogramm, täglich sendet er ihr solche Briefe: »Liebe Kitty, während sie im Park auf einer Bank sitzt, sieht sie einen Mann ihres Alters, der sich krümmt, als hätte er einen schmerzhaften Anfall. Alarmiert denkt sie ›Wie kann ich bloß helfen? Was soll ich tun?‹, doch bevor sie zum Handeln gezwungen ist, erkennt sie, dass er lediglich eine Münze vom Boden aufhebt. Sie fühlt sich seltsam erleichtert und denkt an einen alten Zen-Witz: Mach nicht einfach irgendetwas! Sitze da!

In Liebe, Alex Li Tandem«

Allen Bittschriften zum Trotz bleibt Alex’ Begehren ohne Antwort. So macht sich Li Tandem auf den Weg nach New York, in Kittys Heimat.

Es kommt, wie es kommen muss: Obsessiv trampelt Li Tandem auf den Gefühlen aller Beteiligten herum, aber da er kein schlechter Kerl ist, bleibt ihm letztlich jeder gewogen und alle Blessuren sind vorübergehender Natur. In guter Tradition der Gen-X-Folgeromane ist das Ende kein eindimensionales Happy End. Eher ein and life goes on.

In der Zusammenfassung liest sich das, als hätte es auch von etablierten Popautoren wie Douglas Coupland, Nick Hornby oder Dave Eggers stammen können. Deren Charakterisierungen postmoderner Befindlichkeiten sind bekanntlich ein Verkaufsgarant. Da verwundert es, dass Frau Smith sich mäkelnden Kritikern ausgesetzt sieht, die die Vielfalt der Referenzen beklagen, die Charaktere neben Alex Li für blässlich befinden, den Plot für übermotiviert und unterentwickelt halten und in Alex Li Tandems weinerlicher Egozentrik gar eine Geduldsprobe für den Leser sehen.

Vielleicht stört die Kritiker dies: Nachdem Smith in ihrem munteren Erstling »Zähne zeigen«, der in all seiner deskriptiven Detailfreude mitunter wenig Platz für Restimagination ließ, ihren eigenen geographischen (Nordlondon) und kulturellen (Jamaika) Hintergrund abgesteckt und literarisch nutzbar gemacht, ist eben jetzt der weiter reichende Blick dran. Und da lauert die Postmoderne mit all ihren Miseren und Segnungen. Smith versucht, das macht sie angreifbar, die eigene Person in dieser komplizierten Melange aus Religion und Kultur zu verorten.

Würde sich Smiths Werk im puren Namedropping erschöpfen – ein bisschen Wittgenstein hier, ein wenig Ava Gardner da, Marvin Gaye hier und Walter Benjamin dort, Kaddisch für Anfänger, Kabbala und Zen Light –, dann wäre die Mäkelei der dem Roman weniger gewogenen Kritiker wohl okay.

Über die Einstiege mit Schlagwörtern kann man streiten. Sie gemahnen schwer an Bridget Jonessche Nikotinwerte. Auch über die gekrakelten Illustrationen, die doch auch Couplands »Letters to the Dead« und Dave Eggers’ »A Heartbreaking Work of Staggering Genius« zieren. Aber, das sei dem Leser gesagt: All der Zierrat ist ebensolcher. Lässt man den weg, bleibt eines: ein verdammt gutes zweites Buch.

Zadie Smith: Der Autogrammhändler. Droemer, München 2003, 480 S., 22,90 Euro