Stille Wasser sind laut

Im französisch-schweizerischen Grenzgebiet bereitet man sich auf den G 8-Gipfel Anfang Juni in Evian vor. von yves kramer, zürich

Ausverkauf: 50 Prozent Rabatt vor dem G 8!«, steht auf dem Schild im Schaufenster eines Genfer Porzellanladens. Die Diskussionen um die erwarteten Proteste gegen den G 8-Gipfel, der vom 1. bis zum 3. Juni im französischen Kurort Evian stattfinden wird, zeigten ihre Wirkung. »Man könnte meinen, in Genf gingen am 1. Juni 100 000 Terroristen ans Werk«, bringt die Berner Zeitung die derzeitige Stimmungslage auf den Punkt. Das Gespenst der Globalisierungsgegner versetzt die Menschen in der Region in Angst und Schrecken. Vor allem in Genf erinnert man sich noch allzu gut an die in Brand gesteckten Autos, die geplünderten Läden und die rund fünf Millionen Franken Sachschaden anlässlich der Proteste einiger tausend Aktivisten gegen die WTO-Ministerkonferenz im Mai 1998.

Insgesamt 27 Staatspräsidenten werden auf der französischen Seite des Genfer Sees zu dem informellen Treffen zusammenkommen. Wenige Wochen nach dem Krieg im Irak ist dabei für Gesprächsstoff gesorgt. In Evian selbst wird die Zusammenkunft wohl unbehelligt von Demonstranten über die Bühne gehen können, da die »rote Zone« des günstig gelegenen Badeortes ausgedehnt wurde. Sie reicht bis in die benachbarte Stadt Thonon und über den Genfer See bis in das Lausanner Hafenviertel Ouchy, wo ein großer Teil der Delegationen sein Quartier beziehen wird. Dass Frankreich Evian für den diesjährigen G 8-Gipfel ausgewählt hat, ohne die Schweizer Behörden vorher zu konsultieren, passte vielen Schweizern ganz und gar nicht. Trotzdem wurde bereits ein Staatsvertrag über die grenzüberschreitende Zusammenarbeit während des Gipfels abgeschlossen.

Während auf französischem Gebiet etwa 10 000 Sicherheitskräfte aufgeboten werden, kommen auf Schweizer Seite neben 4 500 Polizisten auch 5 600 Soldaten zum Einsatz. Wobei die Einberufung von Schweizer Milizsoldaten für den G 8-Sicherheitsdienst bereits vor Monaten für hitzige Debatten sorgte. Sogar unter den Soldaten regte sich Widerstand. Seit mehreren Wochen ruft nun ein G 8-Soldatenkomitee öffentlich dazu auf, den Dienst zu verweigern. »Wir weigern uns, das gesamte Genfer Seegebiet für Wochen in einen Ausnahmezustand zu versetzen. Und vor allem weigern wir uns, als Hilfssheriffs der G 8 gegen friedliche DemonstrantInnen eingesetzt zu werden.« Ein Strafverfahren ist derzeit anhängig.

Auch um den Einsatz von Polizisten aus der gesamten Schweiz entstand ein wochenlanger Streit zwischen den Behörden der Bundeshauptstadt Bern und den lokalen Vertretern in Genf und Lausanne. Nur noch peinlich sei das Ganze, befand am vergangenen Freitag die Berner Zeitung, als sich der Bundesrat dazu durchringen musste, 750 deutsche Polizisten für die Sicherung des Genfer Flughafens bei Innenminister Otto Schily anzufordern. Trotz anders lautender Beteuerungen blieb dem Bundesrat schließlich nichts übrig, als Deutschland um Hilfe zu bitten, da verschiedene Kantone sich standhaft weigerten, genügend Polizisten freizustellen. Nach den Erfahrungen mit den Anti-WEF-Protesten der letzten Jahre wird vor allem in Bern und Zürich mit Demonstrationen im Zusammenhang mit den Protesten in Evian gerechnet. Trotz der weit verbreiteten Sicherheitshysterie will nicht nur die Linke, sondern vor allem auch die Rechte nichts von ausländischen Polizisten wissen. Passen sie doch ganz und gar nicht ins Bild einer wehrhaften und unabhängigen Schweiz. »Lieber jetzt die Kröte schlucken. Dafür ist die Sicherheit von Bevölkerung und Gipfelteilnehmern garantiert«, wird dagegen im liberalen Tages-Anzeiger argumentiert.

Während der Sicherheitsapparat in den letzten Wochen nochmals aufgestockt wurde, gehen die Globalisierungskritiker davon aus, dass die Teilnahme geringer ausfallen könnte, als zuerst angenommen. »60 000 Demonstrierende wären schon ein großer Erfolg«, meint beispielsweise Rémy Pagani von der Linksallianz im Genfer Kantonsparlament.

Das Ziel der Bewegung bleibe es, die Durchführung des Gipfels möglichst zu behindern, sagt Juan Tortosa vom Schweizer Forum social lémanique (FSL). Nur durch den Versuch, die Treffen zu blockieren oder zumindest zu stören, zeige die Bewegung Kraft und Entschlossenheit. »Gewaltfreie, aber effiziente Blockaden und Sit-ins«, die sich an der »Taktik von Seattle« orientieren, sind im ganzen Genfer Seegebiet für den Gipfelbeginn am Sonntag geplant. Am gleichen Tag wird auch die Großdemonstration stattfinden, an der sich die französischen und Schweizer Gewerkschaften beteiligen wollen. Im französischen Annemasse und in Genf werden zwei Demonstrationszüge losziehen. Die grenzüberschreitende Kundgebung soll laut Josiane Schepper vom Hochsavoyer Kollektiv Charg8 zu einem lauten, festlichen Umzug werden. Von Aktivisten, die Angriffe auf Fassaden von repräsentativen Gebäuden planten, wird in einem FSL-Papier gefordert, »vorher gut darüber nachzudenken. Was uns betrifft, fordern wir sie auf, darauf zu verzichten.« Denn das erste Opfer der Randalierer seien nicht die Scheiben von Geschäften, sondern die soziale Bewegung, bekräftigt Charg8.

Ab 28. Mai werden rund um Evian verschiedene Camps errichtet. Zwei »Villages« werden in Annemasse entstehen, ein Camp und mehrere Parks zur Übernachtung in Genf eingerichtet, und ein weiteres »Protestdorf« wird in Lausanne organisiert. Zusätzlich sind alternative Medien- und Indymedia-Zentren in Vorbereitung. Bereits an den Tagen vor dem Gipfel wird es in der Genfer Seeregion vielfältige Aktivitäten geben. So sollen am Vorabend der Großdemonstration und der Massenblockaden 50 so genannte »feux au lac« rund um den See ein Zeichen des lokalen Protests setzten. Neben den verschiedenen Konferenzen und Gegengipfelveranstaltungen mit Vertretern von Oppositionsgruppen und sozialen Bewegungen wird es bereits am Donnerstag, der in der Schweiz und in Frankreich ein Feiertag ist, zu einer ersten »Nicht-Willkommens-Auftaktaktion« in Lausanne kommen.

Zudem ist am Freitag eine »Wanderkundgebung« im Genfer Institutionenviertel geplant. Diese Kundgebung steht für den Versuch, unterschiedliche Aspekte der Globalisierung zu thematisieren und verschiedene Ansätze der Bewegungen für eine »Globalisierung von unten« inhaltlich stärker aufeinander zu beziehen. Sie soll zu den Hauptsitzen der Welthandelsorganisation (WTO), der International Organisation for Migration (IOM) und der World Intellectual Property Organisation (WIPO), die wegen ihres »Digital Rights Management« von der unabhängigen Medienszene kritisiert wird, führen.

Schon der Ort Evian bietet einen guten Anlass, den Widerstand gegen das Migrationsmanagement und die herrschende Flüchtlingspolitik zu thematisieren. 1938 fand die »Konferenz von Evian« statt, auf der Delegationen aus 32 Ländern über das Schicksal der jüdischen Flüchtlinge beraten haben. Niemand war damals bereit, die verfolgten und bedrohten Menschen aufzunehmen und die restriktive Flüchtlingspolitik zu überdenken. Die Delegationsteilnehmer sollen sich lieber mit den Attraktionen des Kurortes haben verwöhnen lassen, als ernsthaft über die bedrohliche Lage der Juden in Deutschland zu diskutieren.