Unfreie Marktwirtschaft

In den USA sitzen zurzeit mehr als zwei Millionen Menschen im Gefängnis. Wie konnte es dazu kommen? von marcus hammerschmitt

Michael McCarthy ist ein kleiner Scheckfälscher. Neulich durfte er in der Denver Post vorrechnen, wie viel seine fünfjährige Haftstrafe den US-Bundesstaat Colorado kosten wird: 150 000 Dollar. Der Wert seiner gefälschten Schecks beläuft sich auf 1 300 Dollar.

Das ist nur ein kleines Detail in der großen Saga des Widersinns, und es wird die amerikanische Öffentlichkeit genauso wenig stören wie die Tatsache, dass in Texas aus Kostengründen die tägliche Nahrungsration für Gefangene mittlerweile von 2 700 auf 2 500 Kalorien gesenkt wurde. Oder dass Mike Easley, der Gouverneur von North Carolina, Bauaufträge für drei neue Jugendgefängnisse an Privatunternehmen vergeben will, für deren Ausführung der Bundesstaat Kredite in Höhe von 90 Millionen Dollar wird aufnehmen müssen. Denn er kann ja argumentieren, dies diene der Entlastung der vielen veralteten und überfüllten Jugendgefängnisse im Lande. Die Frage aber, warum so viele Jugendliche dort landen, interessiert nicht.

Dem jüngst erschienenen nationalen Gefangenenbericht der USA, der den Stand vom Sommer des vergangenen Jahres widergibt, war zu entnehmen, dass erstmals in der Geschichte des Landes mehr als zwei Millionen Menschen inhaftiert sind. Auch diese Nachricht wurde nicht besonders beachtet. Vielleicht ist das ohrenbetäubende Schweigen, auf das die Irrationalität all dieser Zustände trifft, tatsächlich die Folge eines Abstumpfungsprozesses. Denn dass sich hier vor den Augen der Öffentlichkeit ein Desaster anbahnt, ist nicht neu.

Bereits 1998, als die Zweimillionenmarke bedrohlich nahe rückte, veröffentlichte das angesehene Magazin The Atlantic ein bedrückendes Dossier von Eric Schlosser (»The Prison-Industrial Complex«, Nr. 12/98) zur Entwicklung des Gefängnisbooms in den USA. Aber selbst die dort dargelegten Fakten lösten keine weiter gehende Debatte aus. Man hört solche Dinge seit Jahren. Zwei Millionen Gefangene? Tough. Das Wetter.

Neben dem Gewöhnungseffekt ist noch ein anderer Grund dafür ausschlaggebend, dass solche Nachrichten keinen großen Wirbel verursachen. In der Gefängniswirtschaft in den USA wird sehr gut verdient. Sie illustriert musterhaft einen Wesenszug des Kapitalismus, der Gewinne privatisiert und Verluste sozialisiert. Private Bauunternehmen errichten Gefängnisse in einem so schwindelerregenden Tempo, dass sie in einigen strukturschwachen Gebieten zum wichtigsten Wirtschaftsfaktor geworden sind. Private Bestrafungsunternehmen wie die Wackenhut Corporation erwirtschaften je mehr Gewinn, desto mehr Menschen sie in ihren privaten Knästen inhaftieren. Für private Unternehmen aus nahezu allen Bereichen der Wirtschaft stellen Gefangene für Hungerlöhne Waren her, ohne dass die Unternehmen einen Cent für die Unterbringung und Ernährung der Gefangenen zu zahlen hätten.

Denn diese Kosten übernimmt der amerikanische Staat. 35 Milliarden Dollar pro Jahr wandte er Ende der neunziger Jahre für das Gefängnissystem auf, und wegen der gestiegenen Gefangenenzahlen kann man davon ausgehen, dass es in den letzten Jahren noch mehr geworden ist. Aus der jüngsten Zeit liegen nur widersprüchliche Zahlen und Statistiken vor.

Klar ist, dass die Zahl gewalttätiger Verbrechen in den USA seit 1991 um 20 Prozent abgenommen hat. Aber im gleichen Zeitraum stieg die Zahl der Gefangenen um 50 Prozent. Sieben von zehn amerikanischen Gefangenen sind Analphabeten. Mindestens 200 000 leiden an einer ernsthaften psychischen Krankheit. Zwei von dreien haben Drogen- oder Alkoholprobleme.

Schlosser verfolgte im Atlantic den Ursprung dieser bizarren Entwicklung bis in den Januar des Jahres 1973 zurück, als Nelson Rockefeller, der Gouverneur des Staates New York, in einer Rede vor dem Parlament des Bundesstaats für jeden Drogendealer eine lebenslange Haftstrafe ohne Bewährung forderte. Er wollte von seinem Ruf als harter Verbrechensbekämpfer profitieren, den er sich schon 1971 durch die Niederschlagung eines Gefängnisaufstands in Attica erworben hatte, um ins Weiße Haus zu gelangen.

Die Gesetzesverschärfungen, die er durchsetzte, stellten 1982 seinen Nachfolger Mario Cuomo vor die schwierige Aufgabe, entweder die Rechtsprechung wieder zu lockern oder neue Gefängnisse zu bauen, denn wegen Rockefellers »Tough on Crime«-Strategie hatte sich die Zahl der Gefängnisinsassen mehr als verdoppelt. Cuomo entschied sich für den Neubau von Gefängnissen.

Zu diesem Zweck benutzte er ein besonderes Finanzierungsinstrument: die staatliche Urban Development Corporation. Eigentlich geschaffen, um Sozialwohnungen zu bauen, hatte dieses Amt für Cuomo einen entscheidenden Vorteil. Es konnte Staatsanleihen ausgeben, also Schulden machen, ohne von den Wählern beeinflusst zu werden. Das war nötig, weil erst ein Jahr zuvor eine Staatsanleihe in der Höhe von 500 Millionen Dollar zu Zwecken des Gefängnisbaus bei einer Wahl scheiterte. In den nächsten zwölf Jahren schuf Cuomo mehr Gefängnisplätze als alle Gouverneure vor ihm zusammen, was dem Bundesstaat New York Kosten von sieben Milliarden Dollar verursachte.

Im ganzen Land ahmten die Politiker die Strategien Rockefellers und Cuomos nach und sorgten für ein drastisches Anwachsen der Gefangenenzahlen und für enorme Profite der Gefängnisindustrie. Und, so Schlosser, sie förderten damit eine Entwicklung, die dazu führte, dass heute mehr als zwei Millionen Menschen im Gefängnis sitzen.

Seither sammelt das Bureau of Justice Statistics Jahr für Jahr die Scherben ein, indem es in seinen Berichten ein ständiges Anwachsen der Gefangenenzahl feststellt und in administrativer Sprache alle zugehörigen Trends benennt. Die Realitäten der Bestrafung, selbst der eklatante Rassismus des Justizsystems, der noch aus der trockensten Statistik zu entnehmen ist, werden nicht geleugnet. Propaganda ist kaum notwendig, wo der Status quo akzeptiert wird. Zwei Millionen Strafgefangene? Tough.