Dorffest und Stadtguerilla

In Athen geht der Prozess gegen die angebliche Terrorgruppe 17. November weiter. Im Zeugenstand berichten linke Veteranen über die polizeiliche Praxis der letzten 28 Jahre. von ralf dreis, athen

Athen Mitte Juni. Das Stadtbild ist geprägt von den Plakaten, die gegen den EU-Gipfel in Thessaloniki mobilisieren. Kommunistische Partei, Linksallianz, anarchistische Bewegung – alle wollen es den Herrschenden zeigen. »Der Weg des Widerstands gegen die Verfassung der Unterdrückung führt über die Barrikaden von Thessaloniki«, verkünden die Anarchisten.

Unterdessen läuft hinter den dicken Mauern des Gefängnisses Korydallos der Prozess gegen die 19 mutmaßlichen Mitglieder der Stadtguerillagruppe 17. November. Eigentlich war die Urteilsverkündung für Anfang August angesetzt, aber daraus dürfte nichts werden. Mehr als 300 Namen umfasst die Zeugenliste der Verteidigung, und die Vernehmung ist noch lange nicht abgeschlossen.

Am Eingang des Gefängnisses heißt es Taschen leeren, eine Schleuse passieren, sich abtasten lassen. Auf dem Flur stehen rauchende Zuhörer, Angehörige, Zeugen, Polizeibeamte. Im Verhandlungssaal sind etwa 50 Zuhörer, davor die fast leeren Stuhlreihen der Presse, dann eine kleine Barriere. Davor sitzen die Angeklagten, umgeben von Polizeibeamten. Rechts haben ihre Anwälte Platz genommen, links die der Nebenklage. Ihnen frontal gegenüber sitzen die Richter und die Staatsanwälte.

Gerade spricht Epaminondas Skiftoulis, 48 Jahre alt, Anarchist und einer der üblichen Verdächtigen der achtziger und neunziger Jahre. »Der 17. November war sehr maßvoll mit seinen Aktionen. Darum genoss die Gruppe hohes Ansehen, sogar in den Reihen ihrer Feinde. Hätten sie Anfang der achtziger Jahre ihre Pforten für junge Leute geöffnet, würden wir hier unter anderen Bedingungen reden. Nicht dass sie die Revolution gemacht hätten, aber auf jeden Fall wären die Lebensbedingungen der Arbeiter besser.«

Skiftoulis war zu Beginn der neunziger Jahre selbst wegen Mitgliedschaft im 17. November angeklagt und saß lange in Untersuchungshaft. Ständig unterbrochen vom Staatsanwalt erläutert er, wie mit illegalen Verhörmethoden versucht wurde, Falschaussagen von ihm zu erpressen. »Auch hier ist mehr als die Hälfte der Angeklagten unschuldig«, ist er sich sicher.

Viele der Angeklagten hatten sich nach ihrer Verhaftung im vergangenen Sommer durch Aussagen und gegenseitige Belastungen hervorgetan (Jungle World, 33/02). Dies änderte sich erst, als sich im Oktober 2002 Dimitris Koufontinas freiwillig stellte. Er übernahm die »politische Verantwortung« für alle Taten des 17. November und appellierte an seine Mitgefangenen, »ihre Würde wieder zu erlangen«. Daraufhin zogen einige ihre Aussagen vollständig oder in Teilen zurück und beschuldigten die Polizei, gefoltert, psychischen Druck ausgeübt und Psychopharmaka verabreicht zu haben. Andere hingegen halten ihre Aussagen aufrecht.

Einen politischen Charakter wollen Richter und Staatsanwälte der Organisation nicht zubilligen. So erregt sich der Vorsitzende Richter Michalis Margaritis bei der Vernehmung der Zeugin Maria Georgianni, einer linken Journalistin: »Lassen wir die Ideologie und auch die Bomben beiseite. Das Volk will wissen, warum die Gruppe so viele Menschen umgebracht hat.« 25 waren es seit 1975. Die Antwort von Georgianni lautet: »Die griechische Gesellschaft will ebenfalls wissen, warum in Griechenland seit Ende der Militärjunta 1974 mehr als 3 500 Arbeiter auf Baugerüsten und in Fabriken für den Gewinn ihrer Bosse sterben mussten.« Tumult im Gerichtssaal.

Am nächsten Morgen erscheint Manolis Glezos, einst zum Tode verurteilter legendärer Held des griechischen Befreiungskampfes gegen die deutsche Besatzung sowie gegen die Junta 1967 bis 1974. Er war es, der nach dem Einmarsch der Wehrmacht in Athen die Hakenkreuzfahne von der Akropolis holte und durch die griechische Nationalfahne ersetzte. Heute gehört der 84jährige der Linksallianz an.

An der Einlassschleuse verweigert er jede Durchsuchung. Die Polizeibeamten sind hin und her gerissen zwischen Respekt und Befehl. Der zu Hilfe gerufene verantwortliche Offizier erklärt, dass Glezos »natürlich« passieren dürfe. Man kennt sich, plaudert. Glezos ist als Zeuge des anarchosyndikalistischen Gewerkschafters Giannis Serifis (Jungle World, 40/02) geladen, der sich als einziger Angeklagter auf freiem Fuß befindet. »Dieser Prozess wird zeigen«, erklärt Glezos im Zeugenstand, »wie es um die rechtsstaatliche Kultur in unserem Land bestellt ist. Leider sehe ich, dass Giannis Serifis wegen seiner Ideen verfolgt wird.« Der Vorsitzende Richter drängt zur Eile. »Ja, all das ist bekannt, weiter!«

Am Nachmittag sagen zwei Bauarbeiter aus Ikaria aus, wo Christodoulos Xiros lebte. Beide Zeugen bestätigen, dass er seit zwanzig Jahren das Dorffest am 15. August mitorganisiert und an diesem Datum nie gefehlt habe. Das ist vielleicht ein wichtiges Detail. Denn Xiros hatte zunächst die Mitgliedschaft in der Gruppe und die Beteiligung an mehreren Anschlägen gestanden. Einer dieser Anschläge wurde am 15. August 1988 in Athen verübt, dem Tag des Dorffestes. Mittlerweile hat er seine Aussagen widerrufen und bestreitet, jemals dem 17. November angehört zu haben. Er habe seinem schwer verletzten Bruder Sabbas Xiros helfen wollen und auf polizeilichen Druck vorbereitete Protokolle unterschrieben.

Am nächsten Tag ist die französische Professorin Katrin Samari als Zeugin des Angeklagten Theologos Psaradellis aufgerufen. Der Trotzkist hat zugegeben, sich in den achtziger Jahren an einem Banküberfall beteiligt zu haben. Mit dem Geld wollte er ein Buch über die Geschichte der trotzkistischen Bewegung finanzieren. Er hat niemanden belastet und bestreitet vehement die Mitgliedschaft in der Gruppe 17. November. Auch die Zeugin Eleni Barika ist Professorin aus Paris. Sie hebt Psaradellis’ Aktivitäten gegen die Obristendiktatur hervor und betont, seine Überzeugungen verböten es ihm, politische Feinde zu töten.

Ihr folgt Klearos Smirneos, ein Anarchist und Lehrer, der 1987 gemeinsam mit anderen als »Topterrorist« des 17. November und der militanten Gruppe Revolutionärer Volkskampf verhaftet wurde. »Hätte es in den Achtzigern das Terrorgesetz von heute gegeben, wäre ich jetzt noch im Gefängnis. Auch bei uns wurden belastende Indizien konstruiert. Auch damals gab es Fingerabdrücke von Mitangeklagten, was aber nicht als Schuldbeweis ausreichte. Mit Recht, denn nichts ist einfacher, als Fingerabdrücke von einem Gegenstand auf einen anderen zu übertragen.« Plötzlich wird das Gebäude von einem lauten Knall erschüttert. Als klar wird, dass sich nur ein starkes Gewitter entlädt, scherzt der Richter: »Der 17. November lebt.« Alle lachen.

So geht es weiter. Die Kriminalisierten, Eingeknasteten und Gefolterten von 28 Jahren parlamentarischer Demokratie in Griechenland geben sich ein Stelldichein, um über die Methoden der griechischen Polizei zu berichten. Ob das genügt, die inzwischen größtenteils revidierten gegenseitigen Beschuldigungen zu entkräften, ist mehr als fraglich. Serifis und seine Anwälte gehen davon aus, dass die Urteile schon weitgehend feststehen.