Niedrige Leidenschaft, törichte Menge

Die Anfänge des Radsports in Deutschland symbolisieren den Aufbruch in die Moderne. Die Kritik daran war völkisch. von arthur heinrich

Der Radrennsport kam in Deutschland mit Verspätung an. Hatte in Frankreich das erste Bahnrennen bereits 1868, das erste Straßenrennen (von Paris nach Rouen) 1869 stattgefunden, dauerte es noch ein gutes Jahrzehnt, bis hierzulande der Velociped-Wettkampf Aktive und ein Publikum fand.

In den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts erlebten Radrennen in Deutschland eine Blütezeit. Vereine wie auch Privatunternehmen ließen Rennbahnen anlegen, auf denen zumeist so genannte Flieger-Duelle ausgetragen wurden, bei denen die beiden Kontrahenten nicht von Beginn an auf Sieg fuhren, sondern sich lange belauerten, um schließlich in einer günstigen Ausgangsposition mit einem überraschend angezogenen Sprint den Erfolg zu suchen. Dass es um immer größere Herausforderungen ging, belegte die 500-Kilometer-Wettfahrt Leipzig-Berlin-Leipzig-Dresden-Leipzig im Jahr 1891. Noch härtere Anforderungen stellte das Distanzrennen von Wien nach Berlin im Jahr 1893, das dem Velociped und dem Radsport in Deutschland endgültig zum Durchbruch verhalf.

Die ganz überwiegende Gunst der Radsportliebhaber gehörte jedoch am Ende den Bahnwettkämpfen, wobei dort die Steher am populärsten waren. Deren Rennen, bei denen Motorräder Schrittmacherdienste leisteten, waren schneller und auch gefährlicher. Um die Jahrhundertwende waren die Steherrennen »die populärste Sportdisziplin überhaupt«, wie Rüdiger Rabenstein in dem Buch »Radsport und Gesellschaft« schreibt.

Der gewaltige Zulauf rief allerdings jede Menge Widersacher auf den Plan. Dazu gehörte die zur Jahrhundertwende mehr als 650 000 Mitglieder zählende Deutsche Turnerschaft. Und dazu gehörte der »Zentral-Ausschuss zur Förderung der Volks- und Jugendspiele« (ZA). Dieses aus Intellektuellen und Militärs bestehende und durch staatliche und kommunale Zuwendungen finanzierte Gremium war 1891 mit dem Zweck aus der Taufe gehoben worden, zur Verbreitung der von der Turnerschaft ignorierten oder gar bekämpften Wettkampfspiele beizutragen.

Nun verstand sich der ZA keineswegs als Gegengründung zur Turnerschaft, sondern als Ergänzung. Schon wegen der gemeinsamen Herkunft der jeweiligen Repräsentanten aus dem eher gehobenen als mittleren Bürgertum bestand Einigkeit. Weil man mit dem 1871 geschaffenen Bismarck-Reich längst Frieden geschlossen hatte, ging es vor allem darum, das Vaterland mit einer ertüchtigten, also wehrfähigen und en passant gegen den »sozialistischen Geist« immunisierten Jugend zu versorgen.

Den Konsens mit den Turnfreunden stellte denn auch der Beitrag übers Radfahren im ZA-Jahrbuch für Volks- und Jugendspiele von 1897 heraus, den Th. Heinrich verfasste: »Der Radfahrsport insbesondere hat längere Zeit hindurch seitens der Turnerschaft eine etwas stiefmütterliche Behandlung erfahren – mit Unrecht: denn der tüchtige Radfahrer ist in der Regel zuvor Turner gewesen und ist es zum Teil noch, wenn die Winterzeit ihn hindert, auf seinem flüchtigen Gefährt in die grünenden und blühenden Gefilde hinauszueilen.« Trotz aller Umschweife machte der Verfasser schließlich aus seiner Kritik am »Wettfahrsport« keinen Hehl. Bahnbesitzer würden Prämien aussetzen, um die besten Fahrer zu gewinnen und mit ihnen mehr Publikum ködern zu können, Fahrradfabrikanten führten Rennfahrer auf ihrer Gehaltsliste, in der Hoffnung, durch Siege den Absatz an hauseigenen Zweirädern in die Höhe zu treiben. Das den Autor bedrückende Fazit lautete, »das Bestreben, das Wettfahren zum Erwerbszweige auszugestalten«, habe »vielfach Anklang« gefunden.

Davon zeugten nicht zuletzt diverse Verbandsgründungen. Ob »Allgemeine Radfahrer-Union, Verband der Vereine für Rad-Wettfahren« oder diverse Regionalverbände, sie alle hätten sich, so der Kritikus des ZA, dem »Berufsfahrertum« verschrieben und kämen für das in Aussicht genommene Deutsche Nationalfest – übrigens das einzige ZA-Projekt, das bei der um die Attraktivität ihres Deutschen Turnfestes fürchtenden Turnerschaft auf Vorbehalte traf – als Partner nicht mehr in Frage.

In vehementer Ablehnung jedweder »Geldpreispartei« fanden die deutschen Protagonisten des Sports durch die Bank zusammen. Das galt für den ZA ebenso wie für die Vertreter neu entstandener Fachverbände und sowieso für die Turn-Offiziellen, die den Sport als Bedrohung ihres Alleinvertretungsanspruchs in Sachen Leibesübungen betrachteten.

Eine gewichtige Stimme im damaligen Diskurs um Leibesübungen und Sport war Konrad Koch, Lehrer am Braunschweiger Gymnasium Martino-Catherineum. Er gilt bis heute als ein, wenn nicht der Pionier des Fußballs in Deutschland, führte er doch das Spiel bereits 1874 in den Turnunterricht ein und veröffentlichte im gleichen Jahr ein Regelwerk in deutscher Sprache.

Von einem, der sich für die Verbreitung einer Sportart einsetzte, deren Anhänger so manchem als »die gehorsamen Affen des Auslandes« galten (so Karl Planck in dem Pamphlet »Fußlümmelei« von 1898), durfte man zumindest ansatzweise Weltoffenheit erwarten. Nicht von Professor Koch. Ihm ging es nämlich zuvörderst darum, den Sport »nach turnerischer Art (zu) regeln und zu veredeln«, auf ihn die ideologischen Implikate des deutschen Turnens zu übertragen. Das bedeutete die Abweisung der »Grundsätze des englischen Sports«, und aus diesem Grund war Koch stets darauf bedacht, zum »Engländertum« einen großzügig bemessenen Sicherheitsabstand einzuhalten, wie er in der 1900 erschienenen Programmschrift »Die Erziehung zum Mute durch Turnen, Spiel und Sport« gleich mehrfach deutlich machte.

Als Inbegriff eines dem heimischen Turn- und Spielbetrieb bedrohlich nahe kommenden, natürlich gleich als entartet geltenden Sports galten Koch die Radrennen. »Im stärksten Gegensatz zu den geordneten Leibesübungen des deutschen Turnens und zum echt turnerischen Geiste stehen jene bekannten Veranstaltungen der Fahrradrennen, die viele Tausende von Zuschauern anzulocken pflegen. Wohl sind sie bei uns zu Lande noch nicht ganz so weit ausgeartet wie in England und Amerika. Aber auch auf deutschen Fahrradbahnen machen sich leider schon sehr bedenkliche Erscheinungen bemerkbar.«

Im Radrennsport hätten, folgt man Koch, »sträflicher Ehrgeiz« und »hässliche Gewinnsucht« der Akteure und eine nach »Nervenkitzel« und Befriedigung »niedriger Leidenschaften« suchende »törichte Menge« zu einer unheiligen Allianz zusammengefunden. Bedauerliche Konsequenz seien der Zulaufrückgang beim Turnen (»seit Einführung des Radfahrens entvölkern sich leider die Turnplätze nicht unerheblich«) und, als Langzeitfolge, die wenig verlockende Aussicht, dass sich der Rennsport als Einfallstor des Profitums erweisen könnte, »dass die Höhe der Geldpreise sich immer mehr steigert und schließlich auch beim Turnen, Schwimmen usw. die Berufler zugelassen werden, anfangs in geringer Anzahl, nachher immer mehr, bis sie die Höchstleistungen so weit hinauftreiben, dass die anderen mit ihnen nicht mehr wetteifern können«.

Diese Entwicklung entsprach kaum den ursprünglichen Vorstellungen der Radsportvertreter. In der Satzung des Norddeutschen Velocipedisten-Bundes von 1882, als es in Deutschland keinen einzigen Berufsradrennfahrer gab, stand die Abgrenzung zwischen dem »Amateur« auf der einen und dem »professionellen Fahrer« auf der anderen Seite an erster Stelle. Die Gunst des Bundes galt dabei selbstverständlich dem »Herrenfahrer«. Die vorbeugende Ausgrenzung des Profitums betrieben allerdings nicht nur die Radsportler.

Der herrschende Amateurdogmatismus trieb sonderbare Blüten. Der Deutsche Radfahrer-Bund von 1884, jene Vereinigung, die den Kritikern noch am ehesten akzeptabel erschien, verstand sich als Bund »reiner Amateure«. Gleichzeitig versuchte er, im Berufssport mitzumischen, indem er Rennen für Profifahrer ausrichtete, von denen die eigenen Verbandsmitglieder ausgeschlossen blieben.

Die unbedingte Festlegung auf das Amateurprinzip war den deutschen Verfechtern des Sports eine Herzensangelegenheit. Sie bot die Gelegenheit, die Kompatibilität jener anfangs misstrauisch beäugten, für Deutschland neuen Sportarten mit dem Wertekanon der wilhelminischen Gesellschaft unter Beweis zu stellen.

Zahllose historische Traktate versuchten sich an der nachholenden Begründung der Leibesübungen aus dem Geist der Befreiungskriege 1813ff. Im Denken eines Johann Gottlieb Fichte wie eines Friedrich Ludwig Jahn, so die übliche Argumentation, kam den Leibesübungen eine zentrale erzieherische Bedeutung zu. Nach Konrad Koch waren sie »unerlässlich für die sittliche Wiedergeburt des deutschen Volkes und für die dauernde Erhaltung deutscher Macht und Kraft«. Im Unterschied zur französischen Revolution, die nichts von den Pflichten des Einzelnen gegenüber der Gesamtheit wisse, sei einzig eine Gesinnung vorbildlich und gegenwartstauglich, die auf der Erkenntnis eines jeden Staatsbürgers beruhe, »dass er sich ganz dem Staate schulde« (Jahrbuch für Volks- und Jugendspiele 1908).

Nur ein deutsch verstandener und deutsch praktizierter Sport ließ sich problemlos in diese Traditionslinie einfügen. Die willentliche Unterordnung des Einzelnen unter Staat und Vaterland vermochte auch er zu fördern, indem er »Fügsamkeit, Gehorsam, Pünktlichkeit und Ordnung« postulierte und einübte. Doch diese Sekundärtugenden waren kein Selbstzweck. Sie dienten nicht nur Koch zufolge dazu, »die Kraft des Wollens im Volke zu erhalten« – um »nach Osten und nach Westen hin sich zu behaupten, zu Lande und zu Wasser seine Weltstellung auszubauen«.

Ein um materieller Anreize willen betriebener Sport musste unter solchen Denkprämissen störend und kontraproduktiv erscheinen. »Rennmaschinen sollten sich Liebhaber überhaupt nicht anschaffen«, so die Empfehlung Konrad Kochs. Das erschien ihm schon deshalb geboten, um – wie er andernorts in Anlehnung an einen ansonsten »recht undeutsch sich gebärdenden Mann« namens Friedrich Nietzsche meinte – den Deutschen »die Anlage zum furor teutonicus« zu bewahren.