Warten auf die S-Klasse

So schlecht wie behauptet ist die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland gar nicht. Doch der Ostteil der Republik bleibt ein Problem. von andrej reisin

Ungemütlich war es vor den Werkstoren einiger ostdeutscher Betriebe der Metall- und Elektroindustrie. Die IG Metall streikte für die der 35-Stunden-Woche. Nicht alle waren dafür. Die Gewerkschaft musste aufgeben.

Unvernünftig sei die IG Metall, ihr Verhalten gefährde den ohnehin schwachen Wirtschaftsstandort Ostdeutschland, hieß es. »Die Gewerkschaften haben immer, ohne Rücksicht auf die wirtschaftlichen Verhältnisse, ihre aggressive Lohnpolitik zu Lasten der Allgemeinheit durchgeführt«, sagte Hans-Werner Sinn vom Ifo-Institut München in der Sendung »Report« des Bayerischen Rundfunks. Was sich momentan im Osten abspiele, sei »jenseits von Gut und Böse«.

Die ewig kompromissbereiten, staatstragenden deutschen Gewerkschaften machen eine Politik auf Kosten der Allgemeinheit? Dass diese abseitigen Thesen von den Medien nahezu einhellig übernommen werden, sollte nicht verwundern, ist es den Unternehmerverbänden doch gelungen, das Interesse des Kapitals als das allgemeine zu verkaufen. Flankiert von marktradikalen Ökonomen reproduziert die mediale Wahrheitsmaschine widerspruchslos das neoliberale Programm und verkauft es als sachliches und neutrales Faktum.

Nüchtern betrachtet, ist die wirtschaftliche Lage bei weitem nicht so dramatisch wie behauptet. Nach wie vor wächst das Bruttoinlandsprodukt (BIP), wenn auch wenig. Man glaubt es kaum, aber das BIP war im Jahr 2001 mit über zwei Billionen Euro das größte der bundesdeutschen Geschichte. Gleiches gilt für den beachtlichen Außenhandelsüberschuss, der 2001 bei 93,3 Millarden Euro lag. Von einem Standortnachteil kann also keine Rede sein. Nur wessen Produkte international zu konkurrenzfähigen Preisen verkäuflich sind, kann »Exportweltmeister« sein.

Das Problem, das aus ideologischen Gründen kaum jemand so recht benennen mag, ist der Osten der Republik. Auch 13 Jahre nach der Wirtschafts- und Währungsunion ist der Blick auf das Zahlenmaterial ernüchternd. Die Arbeitslosenquote betrug im Mai in Ostdeutschland 18,6 Prozent gegenüber 8,4 Prozent im Westen. Rechnet man die verdeckte Arbeitslosigkeit hinzu, kann man davon ausgehen, dass im Osten rund ein Viertel derjenigen, die dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, derzeit keinen Job finden. Nach wie vor erreicht das BIP pro Kopf im Osten nur gut 60 Prozent des Westniveaus. Der Osten lebt von Zuschüssen und Subventionen, rund 800 Milliarden Euro flossen seit 1990 in die neuen Bundesländer.

Mit unzähligen Steuerabschreibungen und Beihilfen sollten im vergangenen Jahrzehnt den Unternehmern Investitionen im Osten schmackhaft gemacht werden. Dies sorgte unter anderem dafür, dass häufig in ruinöse Bauprojekte investiert wurde, um Steuern zu sparen. Wer viel Geld verdient hatte, konnte seine Bilanz kurzerhand verschlechtern, indem er hochgradig subventioniert im Osten investierte. Steuerausfälle von vielen Milliarden Euro waren die Folge. In der vermeintlichen Boomtown Leipzig stehen heute rund 30 Prozent der Bürogebäude leer, nicht nur die des Pleite gegangenen Bauunternehmers Jürgen Schneider. Da hilft vermutlich auch keine Olympiabewerbung.

Weitere staatliche Investitionen oder Subventionen über einen längeren Zeitraum dürfte es zudem kaum geben. Erstens fehlt angesichts der Ergebnisse der neoliberalen Umstrukturierung das Geld, zweitens verbieten die wirtschaftspolitischen Vereinbarungen der Weltbank, des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der EU solche regulativen Maßnahmen. Da im Osten viel mehr Menschen direkt mit dem Arbeitslosengeld oder der Sozialhilfe oder indirekt dank Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen von staatlichen Zuwendungen leben, wird der beschleunigte Sozialabbau dafür sorgen, dass die Armut hier schneller wächst. Ohnehin ist die Armutsquote stetig angestiegen. Betrug sie in Deutschland 1992 noch 10,5 Prozent, so liegt sie mittlerweile bei 13 Prozent. Im Osten beträgt sie 13,2 Prozent.

Zusätzlich verschärft wird die Lage durch die Abwanderung junger, qualifizierter Menschen, die aus verständlichen Gründen in den Westen ziehen. Berücksichtigt man die niedrige Geburtenrate und die im Schnitt älter werdende Bevölkerung kann man sich die Auswirkungen dieser Entwicklung leicht vorstellen.

Umso berechtigter waren die gewerkschaftlichen Forderungen nach einer Angleichung der Arbeitsbedingungen und Löhne im Osten an die des Westens, denn sie könnte die Menschen in der Region halten. Das gilt für die Arbeitszeitverkürzung, die zusammen mit einem Abbau von Überstunden tatsächlich neue Arbeitsplätze entstehen lassen könnte. Dass Mehrarbeit ohne Lohnausgleich »Hunderttausende Jobs retten und neu schaffen« soll, wie Christoph Keese, der Chefredakteur der Financial Times Deutschland, glaubt, bleibt ein Rätsel.

Andererseits fehlt dem Bund und den Ländern mittlerweile tatsächlich das Geld, um große staatliche Investitionen zu tätigen und auf keynesianische Art für Wirtschaftswachstum zu sorgen. Das sind die unmittelbaren Folgen der seit Jahren betriebenen Politik. Die neoliberalen Maßnahmen sorgen vor allem für eine beschleunigte Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums. Die Staats- und Gemeindekassen sind deshalb so leer, weil die Unternehmen immer weniger Steuern zahlen. Bei der Körperschaftssteuer gelang es ihnen im Jahr 2001 sogar, Geld vom Staat zurückzubekommen – trotz leerer Kassen und trotz ihrer Rekordgewinne.

Die Kaufkraft der Bevölkerung nimmt außerdem stetig ab und deshalb auch der Absatz der erzeugten Produkte im Inland. Man kann nicht einseitig die Arbeitgeber entlasten und gleichzeitig mehr Konsum erwarten. Welches Geld sollen die Lohnabhängigen, die real seit Jahren weniger verdienen und jetzt auch noch mehr für die eigene soziale Sicherung aufwenden müssen, denn ausgeben?

Auch die Einkommensverteilung ist ungerechter geworden: Nach einer Studie der Bundesregierung verfügten 1998 zehn Prozent der reichsten Haushalte über 50,4 Prozent des gesamten Nettogeldvermögens, während es 1993 noch 46,4 Prozent waren. Hingegen besaß die ärmere Hälfte der Haushalte 1993 noch 7,7 Prozent des gesamten Vermögens, 1998 waren es 4,7. Die Nachfrage nach der neuen S-Klasse wird also in Hamburgs besseren Vierteln ebenso konstant bleiben wie der Erfolg von Aldi im brandenburgischen Finsterwalde.