Kein schöner Ort
Als das Flugzeug landet, regnet es. Eine gestrenge Natschalniza nimmt bereits an Bord die Passkontrolle vor. Erst danach dürfen wir das Flugzeug verlassen, wir suchen Zuflucht unter dem Flugzeugrumpf und warten, bis ein verrosteter Ikarus-Bus herbeieilt. Die Fahrt in die Stadt dauert eine Stunde. Es herrscht Trubel. Die Stadt feiert jedes Jahr ihr Gründungsjubiläum, diesmal ist es das 168. Tausende Jugendliche strömen auf den Stadtplatz und feiern nächtelang. Techno puckert durch die Luft.
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Manfred Brockmann, gebürtiger Hamburger und Wahl-Wladiwostoker, hat Mühe, in den Nachtbus einzusteigen. Betrunkene Kids pöbeln ihn an, als sie merken, dass er kein akzentfreies Russisch spricht. Doch er bleibt gelassen. Der Pastor der lutherischen Kirche kommt gerade aus Magadan von einer seiner Gemeinden. Als Probst des russischen fernen Ostens betreut er ein Gebiet in etwa so groß wie Europa. »Als ich 1991 hierherkam, hatte sich Wladiwostok gerade vom Bleimantel der geschlossenen Stadt befreit. Alle hofften auf bessere Zeiten. Aber nur wenige Probleme wurden seitdem gelöst, im Gegenteil, die Sorgen und Nöte sind eher mehr geworden.«
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Diese Stadt ist nicht der verheißungsvolle Ort, an den es jemanden zieht, um Karriere zu machen oder noch einmal von vorn anzufangen. Wer sich heute hier zum Arbeiten niederlässt, hat entweder viel Mut oder eine ganz besondere Mission. Dass man die Heimat 11000 km weit Richtung Osten in die russische Provinz verlässt, mag merkwürdig erscheinen. »Genau das ist es, was mich anzog«, sagt Manfred Brockmann. »Im Westen werden Sie durch den Konsum weich gekocht, doch hier ist alles Herausforderung und Bewährung.«
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Hören Europäer von Wladiwostok, glauben sie, diese Stadt liege am Rand der Zivilisation. Sie denken an die Transsibirische Eisenbahn, an das Ende von Sibirien, aber eine richtige Vorstellung von der Stadt haben wenige. Auch die Bilder, die in den Sowjetjahren im Westen kursierten, waren dunkel und verschwommen. Heute bietet die Stadt eine gewisse Trostlosigkeit, hat aber auch den Charme verträumter Krimstädte. Großzügig breitet sie sich an den Abhängen und vorgelagerten Halbinseln der äußersten Südostküste Russlands am Pazifik aus. Buchten, Inseln, vulkanische Hügel geben der Stadt ein südliches Gepräge. Wladiwostok wollte einmal das Shanghai des Nordens werden. Das anrainende Küstengebiet bis in den hohen Nordosten über die Gulagstadt Magadan hinaus, so groß wie Zentraleuropa, nannte man Neues Amerika.
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Wir fahren zum Hafen. Der Verkehr nach Magadan, Kamschatka und Sachalin ist eingestellt. Die alten Linien sind unrentabel geworden. Manchmal kommt ein amerikanisches Kriegsschiff. Dann wird in Hektik das größte russische, immer nur vor Anker liegende Kriegsschiff aufgepäppelt. Die amerikanischen Matrosen gehen in Zivil von Bord und fragen die Leute in der Stadt, wo man Mädchen findet, die jungen russischen Matrosen schauen ihnen hinterher. Umgeschlagen werden im Hafen vor allem Schrott und unzählige japanische Autos. Jedes nach Japan abgehende Schiff, egal ob Frachter oder Fähre, lädt Autos. Jedes zweite Auto in Wladiwostok ist ein Jeep.
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1997 geriet der Journalist Grigorij Pasko in die Schlagzeilen. Er wurde verhaftet, weil er Berichte über die Umweltbelastung in der Region veröffentlicht hatte. Er schrieb über die rostigen Atom-U-Boote und die illegale Verklappung von Atommüll vor Wladiwostok. Dazu war er, seinerzeit selbst Marineoffizier, von der Flottenführung beauftragt worden. Er wurde verhaftet, wieder entlassen, aber die Militärs gingen in Berufung. Vorerst darf er die Stadt nicht verlassen. Am Wladiwostoker Strand will uns die Vorstellung, in nur 40 km Entfernung vom zweitgrößten russischen Atommüllverklappungsfreihafen zu liegen, nicht recht gelingen.
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Politiker wie Wladimir Schirinowski warnen vor einem chinesischen Immigrationsdrang. Der Ruf nach der eigenen Republik wird lauter. Doch separatistische Gefühle haben seit den Ereignissen in Tschetschenien auch hier keine wirkliche Chance. Die wenigen Bauern und verbliebenen Produktionsarbeiter haben Angst vor einem weiteren Abbau des Industriesektors. Chinesische Waren dominieren den Markt. In die Stadt kommen viele chinesische Touristen. An den Kiosken gibt es Stadtpläne mit chinesischen Schriftszeichen. Die Architekten, mit denen wir an der Universität sprechen, bleiben gelassen und lachen über die Angst vor den Chinesen. Wir haben nach wie vor die Bodenrechte, außerdem ist das hier ja der Vorposten der russsischen Pazifikflotte, sagen sie.
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Chinesen sind einfach die billigsten Arbeitskräfte, meint Irina Barsegowa, eine Mitarbeiterin von Pastor Brockmann. Außerdem helfen sie über die eigenen Versorgungsmängel hinweg. Ohne ihre Obst- und Gemüsemärkte würden uns die Zähne ausfallen, lacht Irina Barsegowa. Auf dem chinesischen Markt hat sich in auf zwei Etagen aufgestockten Containern eine kleine chinesische Stadt entwickelt. In den neunziger Jahren versorgte die chinesische Mandschurei den fernen Osten Russlands mit Obst und Gemüse. Einige Sorten sahen die Russen zum ersten Mal. Im Süden entstand ein chinesisches Reisanbaugebiet, anderswo legte man Obstplantagen an, doch bald entzog die Obrigkeit aus Angst vor chinesischer Landnahme die Konzessionen wieder. Verwahrloste Landflächen, auf denen nicht einmal Tiere weiden, bestimmen heute das Bild. Primorski Kraij kann sich selbst nicht versorgen, obwohl es fruchtbare Tiefebenen hat.
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In Michailow bei Ussurisk stehen zwei bedrohlich schauende Wächter aus Holz. Sie sollen vor bösen Geistern schützen, vor allem vor denen, die Stalin rief. Es handelt sich um eine Siedlung koreanischstämmiger Ureinwohner, die 1938 nach Kasachstan deportiert wurden. Stalin begründete dies mit möglichen Invasionsgelüsten der Koreaner. In Wahrheit war dies Teil der umfassenden Umsiedlungspolitik. Jetzt sind sie zurückgekommen, die südkoreanische Regierung hat ihnen eine Fertigsiedlung gebaut und die Übersiedlung bezahlt. Nein, zurück wollen sie nicht, erzählen die Leute. Mit den Russen hier seien sie immer gut ausgekommen, mit den Kasachen überhaupt nicht. Jetzt haben sie fast alles, Sicherheit, Land, ein Haus. Aber keine Arbeit. Die schwache Region bietet keine Reserven für solche Fälle. Und das Land gehört ihnen auch nicht. Es ist vom russischen Staat gepachtet. So leben sie auf Kredit. Und hoffen, nicht wieder vertrieben zu werden.