Cities of Terror

Vierteilen, köpfen, lebendig verbrennen – schwer bewaffnete Banditen beherrschen die brasilianischen Slums. Die Politik toleriert sie. von klaus hart, são paulo

Wie wäre das in Berlin, Hamburg oder Frankfurt? Ein Großteil der Einwohner lebt in Vierteln, wo die Verfassung, die Gesetze und die Menschenrechte außer Kraft gesetzt sind, wo die Regierungsgewalt von neofeudalen Warlords ausgeübt wird, die ein strenges Normendiktat mit harter Hand durchsetzen, während die Politiker zusehen.

Wer in einem der vielen brasilianischen Slums das »Lei do Silencio«, das Gesetz des Schweigens, bricht, wer interne Vorgänge des Viertels nach außen trägt oder gar der Presse über die Machtstrukturen etwas berichtet, wird zur Abschreckung exekutiert.

Zum Beispiel mit der so genannten Microonda, der Mikrowelle. Über das gefesselte Opfer werden Autoreifen bis in Kopfhöhe geschichtet, mit Benzin übergossen und in Brand gesetzt. So läuft es in São Paulo, einem der größten Industriestandorte Lateinamerikas mit über 1 000 deutschen Unternehmen und mehr als 1 000 Slums. Oder in Rio de Janeiro, mit über 800 Armenvierteln, Fotos von den verkohlten Leichen werden sogar veröffentlicht.

Manche, die in deutschen Kinos den brasilianischen Film »City of God« sahen, hielten die vielen Gewaltszenen für reichlich übertrieben, sie passten nicht zum sozialromantischen Bild von Brasilien. Dabei wurde im Film weder gezeigt noch erwähnt, dass in der Favela »Cidade de Deus« in Rio das Verbrennen von Missliebigen ebenfalls üblich ist. Als alternative Hinrichtungsmethode gilt dort, sie Alligatoren zum Fraß vorzuwerfen. Köpfen und zerhacken sind ebenfalls gängige Strafen – Leichenteile werden absichtlich an verschiedenen Punkten des Armenviertels ausgestellt, tagelang und selbst bei größter Hitze.

Immer wieder beobachtete, fotografierte man sogar Kinder, die mit abgeschlagenen Köpfen Fußball spielten. Vergewaltiger werden kastriert, Diebe ausgenommen. »Harmlosere« Strafen sind Folterungen oder das Durchschießen der Hände und Füße. Etwa bei jenen, die Ausgangssperren missachten oder Banditenbefehlen nur murrend nachkommen.

Denn jedermann muss mit den Verbrechersyndikaten kooperieren, Drogen, Waffen, Raubgut, Entführte, bei Razzien selbst Bandidos in seiner Kate verstecken. »Weil ich ein Auto habe«, so ein Slumbewohner, »muss ich andauernd schwer bewaffnete Gangster in der ganzen Stadt herumfahren, sie sogar zu Überfällen transportieren. Bitter ist, dass es unter uns keine Solidarität mehr gibt, jeder misstraut jedem.«

Ohne Zustimmung der Gangster darf niemand Besucher, nicht einmal Verwandte in den Slum mitbringen, auch Politiker haben keinen Zutritt. Als jüngst der Kongresssenator Eduardo Suplicy, der zur Arbeiterpartei (PT) des Präsidenten Lula da Silva gehört, die Favela Vila do Joao in Rio besuchte, hielt er sich ebenfalls streng an die Vorgaben und verschwand samt seinem Journalistentross pünktlich zur geforderten Zeit.

Die Favelas sind Hochburgen und Operationsbasen der Milizen, die angesichts steigender Massenarbeitslosigkeit keine Nachwuchsprobleme haben. Sie integrieren zehntausende Kinder in den Arbeitsmarkt der Syndikate und zahlen ihnen gute Löhne, mit denen sich ganze Großfamilien ernähren lassen.

»In den Slums«, so die Anthropologin Alba Zaluar, Brasiliens führende Gewaltexpertin, »ist eine neue tyrannische Kultur feudalistisch-machistischer Werte inzwischen fest installiert. Alles wird hingenommen von den Autoritäten.« Jugendliche Banditen bekennen ganz offen, jeden sofort zu töten, der als Polizeiinformant gilt. »Uns macht’s Spaß, Leute zu töten, wir sind tatsächlich finstere Typen, stehen zu unserem Job.« Einer erschoss bereits drei Polizisten, ein anderer köpfte einen Mann, »zur Abschreckung der Bewohner«, wie er sagt.

Und alle wissen, dass sie im »Stadtkrieg«, der jährlich zehntausende Opfer fordert, meist keine 25 Jahre alt werden. 16 Slumkids verschiedener Teilstaaten ließen sich für einen Dokumentarfilm interviewen, nach zwei Jahren lebte nur noch eines.

Die Bosse des organisierten Verbrechens leben natürlich nicht in den Favelas. »Die wohnen in den Nobelvierteln«, betont die aus der Oberschicht stammende Sozialarbeiterin und Menschenrechtsaktivistin Yvonne Bezerra da Silva. Das »Crime organizado«, so Roberto Precioso, der neue Leiter der Bundespolizei in Rio de Janeiro, »durchdringt inzwischen die gesamte Gesellschaft«.

In der achtjährigen Amtszeit von Lulas Vorgänger Fernando Henrique Cardoso haben die Verbrechersyndikate ihre Parallelmacht ausgebaut, sie besitzen inzwischen sogar Bazookas zum Kampf gegen Panzer, schwere MG zur Flieger-und Hubschrauberabwehr, deutsche G-3-MP, moderne Sturmgewehre des Schweizer Bundesheeres, Handgranaten en masse. Und sie setzen diese Waffen auch ein.

Neuerdings attackieren die Syndikate immer häufiger Armeestützpunkte und Kasernen, erbeuten Munition, blockieren Stadtautobahnen und Straßentunnel, um serienweise Lkw abzufangen. Und um Macht zu demonstrieren, wird selbst in Mittelschichtsvierteln tageweise die Schließung tausender Geschäfte erzwungen, musste erst im Mai wieder einmal für über zehntausend Schüler Rio de Janeiros der Unterricht ausfallen. Zahlreiche Militärpolizisten, vom Staat schlecht bezahlt, lassen sich von den Verbrecherorganisationen anheuern, um in ihrer Uniform am Sturmangriff auf Slum-Hochburgen rivalisierender Syndikate teilzunehmen.

Die ausgefeilte Taktik der Gangs wurde ausgerechnet von politischen Gefangenen erlernt, die die Diktaturgeneräle in den sechziger und siebziger Jahren auf der damaligen Gefängnisinsel Ilha Grande bei Rio mit Schwerverbrechern zusammensperrten. Vor der Ankunft der »Politischen« terrorisierten sich die verschiedenen Häftlingsfraktionen untereinander, es herrschte pure Barbarei. Die Diktaturjustiz nahm an, dass die Regimegegner in diesem Kerker zerrieben würden, doch das Gegenteil geschah.

Die »Presos politicos« überzeugten die anderen, dass alle aus dieser Hölle nur lebend herauskämen, wenn Einigkeit und eine klare Organisationsstruktur bestehe. Diese wurde aufgebaut und trug militärische Züge, mit Hungerstreiks ließen sich bessere Haftbedingungen erkämpfen. Und sollten Schwerkriminelle doch einmal einen »Politischen« bedrohen, bekamen sie zu hören: »Der lange Arm der Revolution packt euch, wo immer ihr seid, falls uns hier was passiert.«

Die ideologische Motivation der »Politischen« wurde nur von wenigen Gangstern übernommen, den meisten war sie zu kompliziert, zu fremd. Aber die praktischen Erfahrungen, die eingeschmuggelten Guerillapostillen mit Anleitungen für Banküberfälle und Entführungen, für die Irreführung der Polizei und der Behörden – das war für alle interessant.

Der bevorzugte Lesestoff vieler war »Das kleine Handbuch des Stadtguerilleros« von Carlos Marighela, dem Gründer der Widerstandsorganisation Aliança Libertadora Nacional oder gar »Guerra de Guerillhas« von Che Guevara, mit guten Tipps für den Einsatz von Granaten, Bomben, Maschinenpistolen, Fallen und Hinterhalten, ob im Urwald, in Agrarregionen oder in der Großstadt. 1979 erließen die Generäle eine Amnestie für politische Gefangene.

Die Zurückbleibenden gründeten im Inselknast das »Comando Vermelho« (Rotes Kommando), das erste und bis heute mächtigste Verbrechersyndikat ganz Brasiliens. Die Initialen CV findet man vor allem in Rio, aber auch in anderen Städten an zahlreichen Wänden.

Der berüchtigte Bankräuber Vadinho, einer der Gründer des CV, erzählte einmal: »Als die Politischen weg waren, wurden ihre Schüler zu Lehrern. Wir haben die Gefangenen davon überzeugt, dass sie lernen, studieren, sich organisieren müssen. So hat das doch alles angefangen.« Die Komplizen in Freiheit übernahmen sofort die hierarchische CV-Struktur, übertrugen sie auf die Banditenhochburgen in Rios Steilhangslums, mit bis heute fulminantem Erfolg.

Der benachbarte bergige Nationalpark Floresta da Tijuca wird immer mehr von Slums zerfressen, deren rasches Wachstum auch rivalisierende Syndikate wie das »Terceiro Comando« (TC, »Drittes Kommando«) oder die »Amigos dos Amigos« (ADA, »Freunde der Freunde«) nach Kräften fördern. Neuerdings brennen sie sogar breite Fluchtwege in den Nationalpark und errichten gelegentlich Straßensperren. Ein Umweltminister auf Inspektionsfahrt musste deshalb schon einmal umkehren.

Es ist schwer zu übersehen, dass sich ein Großteil der Slumjugend mit den Gangs identifiziert, Banditenwerte übernimmt, Heranwachsende aus »gegnerischen« Favelas unnachgiebig attackiert. Selbst kriminelle Straßenkinder teilen ihre Stadtreviere entsprechend auf: »Wenn jemand von einer anderen Fraktion im Gebiet unseres Kommandos Überfälle macht, ist er sofort dran«, sagt ein 16jähriger aus Rio de Janeiro. »Einem haben wir jetzt die Beine gebrochen und den Schädel eingeschlagen. Wir waren sieben gegen einen.«