27.08.2003

Wer hat Angst vorm gelben Mann?

China zwischen Realität, Fiktion und Projektion. Ein Dossier von Volker Häring

Wie der Soziologe Oskar Negt in seinem Buch »Modernisierung im Zeichen des Drachen« schreibt, hat der ausländische Beobachter in China folgendes Problem. In den ersten vier Wochen schreibt er komplette Bücher und hat anschließend, je länger der Aufenthalt dauert, immer häufiger die Schwierigkeit, das bereits Geschriebene als das zu entlarven, was es ist: Fiktion.

Eine elegante Lösung des Problems, die Negt gefunden hat, ist die Gegenüberstellung eigener Tagebuchaufzeichnungen einer Chinareise und der nach der Rückkehr geschriebenen wissenschaftlichen Reflexionen. Dafür benötigte er in seinem Buch 542 Seiten, die mit der eigenen Sprachlosigkeit und der seiner Mitreisenden enden.

In diesem Dossier soll der Versuch einer Annäherung an ein Land unternommen werden, das in der Gegenwart und Vergangenheit wie kaum ein anderes die Fantasien und Alpträume des Westens angeregt hat. China verleitet zu Superlativen und zur Mythenbildung. Mit 1,35 Milliarden Menschen ist es das bevölkerungsreichste Land der Erde, mit mehr als 2000 Jahren kultureller Kontinuität die letzte der antiken Großkulturen, die in Teilen bis heute Bestand hat. Es ist zugleich »sozialistische Utopie«, »gelbe Gefahr«, »dritter Weg« und die »Weltmacht des 21. Jahrhunderts«.

Der Versuchung, diese Klischees zu bedienen, soll auf den kommenden Seiten so gut es geht widerstanden werden. Stattdessen soll der Versuch gewagt werden, essenzielle Fragen zu stellen. Wie sieht es aus im China der Gegenwart?

Nicht im gesamten China, Taiwan, Hongkong, Macao und Singapur sind eigenständige Länder mit eigener Geschichte, Kultur und mit eigenen Problemen. Es geht um die Volksrepublik China. Was bedeutet »sozialistische Marktwirtschaft mit chinesischen Charakteristika«? Wofür stehen »Reform und Öffnung« im chinesischen Kontext? Wie sah der Weg von Deng Xiaoping, dem Repräsentanten der Reform- und Öffnungspolitik, bis zu Hu Jintao, seiner jüngsten und blassen Reinkarnation, aus? Welche Macht hat die gerade neu gewählte Regierung, welchen Problemen sieht sie sich gegenüber, und wie wird sich die Volksrepublik in den nächsten Jahren entwickeln? Diese Fragen sollen auf Seite zwei behandelt werden.

Seit den Ereignissen von 1989, als hunderttausende Studenten, Lehrer und Professoren auf die Straße gingen und (nicht ganz uneigennützig, wie sich zeigen wird) Reformen von der chinesischen Regierung forderten, bestimmen in den Westen geflüchtete chinesische Dissidenten die Diskussion um eine politische Alternative für die Volksrepublik.

Wie aber sähe eine potenzielle Opposition zur Kommunistischen Partei Chinas aus? Und, was als viel wichtigere Frage erscheint, besteht unter den in der Volksrepublik verbliebenen Intellektuellen überhaupt ein Interesse an politischer Partizipation? Gibt es außerhalb der KP ein politisches Programm, das die aktuellen Probleme lösen könnte? Sind Organisationsstrukturen vorhanden, die der Aufgabe gewachsen wären, ein Land wie die Volksrepublik zu regieren? Oder beschränkt sich der Lebensentwurf der 89er-Generation ausschließlich darauf, Karriere und in Karaoke-Bars eine gute Figur zu machen? Auf Seite drei soll all das untersucht und außerdem die Frage gestellt werden, inwiefern westliche Vorstellungen und Modelle angesichts nationalistischer Ressentiments der chinesischen Intellektuellen überhaupt als Alternative in Frage kämen.

Schließlich, um die eigene Wahrnehmung zu relativieren, ohne in Chinoiserie zu verfallen, soll anhand der Medienberichterstattung die Frage gestellt werden, nach welchen Stereotypen und Regeln die westliche Rezeption Chinas funktioniert und wie sie funktionalisiert wird. Wer sagt was warum und was ist gemeint? China ist oft genug ein Spiegel für den Westen gewesen, das Ziel von allerlei Sehnsüchten und Ängsten.

Hinzu kommt, dass die VR China nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus in Osteuropa als letztes verbliebenes Land von einiger Macht zumindest zwischenzeitlich die Rolle des Hauptfeindes des Westens übernehmen musste.

Das wiederum rief Kritik in der chinesischen Presse hervor, die eigentlich gerade dabei war, vorsichtig die Restriktionen der eigenen Zensur und Konditionierung abzustreifen. Nun aber fühlt sie sich bemüßigt, die eigene Regierung und Kultur gegen besseres Wissen zu verteidigen. Das macht es dem interessierten Beobachter nicht leichter, und davon handelt der abschließende Artikel.