Auferstanden aus der Ruine

Israel hat Yassir Arafat zu neuer Popularität verholfen. Seit der Palästinenserführer mit seiner Abschiebung oder Ermordung rechnen muss, steht die Bevölkerung wieder hinter ihm. Doch an ein schnelles Ende des Konflikts glaubt im Westjordanland niemand mehr. von michael borgstede, ramallah

Zum Versteckspielen ist das Gelände ideal. Herumstehende Mauerreste, Sandsackhaufen und ein zentral gelegener Berg verschrotteter Autos machen den Innenhof von Yassir Arafats Amtssitz in Ramallah zu einem erstklassigen Abenteuerspielplatz. Die zahlreichen Kinder langweilen sich denn auch nicht, als der Rais (Führer) sich wieder einmal Zeit lässt und die allabendliche Solidaritätskundgebung mit einiger Verspätung stattfindet. Die Spontaneität der letzten Woche ist einer wohlgeplanten Routine gewichen; auf einem Podest spielt eine Kapelle patriotische Lieder und sorgt für die richtige Stimmung. Innerhalb des Vorprogramms hält auch der Gouverneur von Ramallah eine leidenschaftliche Rede, die in begeisterte Sprechchöre mündet. »Wir werden unseren letzten Blutstropfen für dich opfern, alter Mann«, skandiert die Menge. Und sie meint es so.

»Arafat ist unser Führer und der Stolz des palästinensischen Volkes. Es gibt kein Palästina ohne Arafat«, sagt Mohammed al-Terhi, der zum fünften Mal dabei ist und seine drei- und fünfjährigen Töchter mitgebracht hat. »Ich bin bereit, alles für ihn zu opfern – selbst meine Kinder«, fügt er hinzu. Da die Gegenwart von Frauen und Kindern tatsächlich einen gewissen Schutz vor möglichen israelischen Angriffen auf den Palästinenserpräsidenten bietet, soll Arafat jetzt immer von einem Ring von Zivilisten umgeben sein, die auch mit ihm in der Mukata übernachten.

»Achtung – er kommt!« Die Kapelle intoniert die palästinensische Nationalhymne, und der »ewige Führer des palästinensischen Volkes« wird angekündigt. Mit festem Schritt tritt er zwischen zwei mit weißen Tüchern bedeckte riesige Betonblöcke und winkt seinen Anhängern lächelnd zu. Die wiedererlangte Popularität scheint dem 74jährigen gut zu tun. Der zittrige alte Mann der letzten Monate scheint verjüngt und glücklich.

»Abu Amr, unser Führer«, rufen die Besucher ihn bei seinem Kampfnamen. Der wirft dutzendweise Kusshändchen in die Menge. Kurz schaut er sich besorgt um: Ja, der Rückzug ist von bewaffneten Mitgliedern seiner Präsidentengarde gesichert.

Arafat hat Grund zur Sorge. Nur 300 Meter weiter sollen im dritten Stock eines ehemaligen Ministeriums schon vor Tagen israelische Scharfschützen Stellung bezogen haben. Als der Präsident zum Mikrofon greift, herrscht Stille. Wirklich Neues hat er nicht zu sagen. Er spricht von den israelischen »Morden und Zerstörungen«, der Standhaftigkeit des palästinensischen Volkes und jenem Tag, da die palästinensische Flagge auch über Jerusalem wehen werde. Dann lässt er sich noch etwas feiern, winkt, lächelt, macht das Siegeszeichen und zieht sich zurück.

Wenige hundert Meter von Arafats Hauptquartier entfernt sitzt Murad in seinem Stammcafé. Nein, er habe noch keiner dieser »Veranstaltungen« beigewohnt. »Ich habe Arafat vorher nicht gemocht und mag ihn jetzt auch nicht. Aber Kritik am Rais darf man nun nicht mehr äußern«, beschwert er sich. »Die Israelis haben ihm den größten Gefallen getan. So populär war er lange nicht mehr.«

Tatsächlich ist der israelisch-amerikanische Versuch, Arafat zu isolieren und ins politische Abseits zu drängen, grandios gescheitert. Sieben Interviews gab Arafat allein am vergangenen Mittwoch, darunter zwei für das israelische Fernsehen. Gewohnt virtuos weiß er die Medien für seine politische Wiederauferstehung zu nutzen. Während Ariel Sharons Regierung international kritisiert wird und sich »Staatsterrorismus« oder »Mafia-Methoden« vorwerfen lassen muss, spielt Arafat geschickt die Rolle des versöhnungswilligen Friedensbefürworters. Der Waffenstillstand, den Arafats Sicherheitsberater Jibril Rajub den Israelis in der vergangenen Woche vorschlug, wurde in Jerusalem allerdings prompt abgelehnt. Erstens habe man kein Interesse an einer neuen Hudna, und zweitens werde Israel auch weiterhin nicht mit einer von Arafat geführten Regierung verhandeln.

Eine andere Palästinenserführung gibt es aber nicht und wird es wohl in absehbarer Zeit nicht geben. Das neue Kabinett des Premierministers Achmed Kurei wird mehrheitlich aus Arafat getreuen Funktionären der Fatah bestehen. Yassir Arafat hat in den letzten Monaten immer alle Fäden in der Hand gehabt. Jetzt hat er die Führung wieder öffentlich übernommen. Israel ist sich zwar mit dem mächtigen Verbündeten in Washington einig, dass Arafat ein »Hindernis« auf dem Weg zum Frieden darstelle; George W. Bushs Worte vom vergangenen Donnerstag ließen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Doch wie mit diesem Hindernis zu verfahren ist, darüber gehen die Meinungen auseinander.

Eine gewaltsame Abschiebung Arafats ist riskant; im Exil würde der Einfluss des Palästinenserpräsidenten kaum abnehmen. Eine Ermordung dagegen würde ihn zum ewigen Märtyrer der Palästinenser machen und ein Machtvakuum hinterlassen, das nur die erstarkten Extremisten füllen könnten. Daran aber ist niemandem gelegen.

Dass Ariel Sharon seinem Erzfeind noch eine Chance einräumt, ist unwahrscheinlich. Stattdessen versucht man in Jerusalem, die Regierung der USA davon zu überzeugen, beim Bau des umstrittenen Sperrzauns zum Westjordanland die größte israelische Siedlung »Ariel« der westlichen Seite zuzuordnen.

Die Palästinenser schlagen bei diesen Plänen Alarm. Achmed Chatab, ein Arzt aus Ramallah, hat böse Vorahnungen: »Jetzt hat Sharon ja wieder einen hervorragenden Verzögerungsgrund«, beschwert er sich. »Der Friedensprozess muss auf Arafats Ende warten, und bis dahin können die Israelis die Tatsachen auf dem Boden so verändern, wie es ihnen passt. Und unsere Ausgangsposition verschlechtert sich noch weiter.« Achmed redet sich in Rage. »Weniger Land, weniger Brunnen, mehr Siedlungen – wir kennen das doch.« Die Frage, was er von Arafat halte, beantwortet er nur ausweichend: »Er ist unser gewählter Führer, und sowieso: Warum dürfen die Israelis bestimmen, mit wem sie verhandeln wollen? Stell’ dir vor, wir würden fordern, nur mit Jossi Sarid oder Yuli Tamir an einem Tisch sitzen zu wollen – das gäbe doch ein weltweites Gelächter.« Jossi Sarid ist ehemaliger Vorsitzender der linken Meretz-Partei, Yuli Tamir ist Mitbegründerin von Peace Now und war unter Barak Einwanderungsministerin.

Über die große Politik reden die meisten Menschen im Westjordanland nicht lange. Schnell kommt das Gespräch auf das, was ihre Existenz seit Jahren bestimmt, ihnen den Lebensmut nimmt und die Zukunft verbaut. Jeder kann von erniedrigenden Erlebnissen an israelischen Straßensperren berichten, von verängstigten Soldaten in palästinensischen Städten, die in ihrer Panik auch schon mal Frauen und Kinder mit Maschinengewehren bedrohen, oder von den nicht enden wollenden Ausgangssperren, die ganze Großfamilien wochenlang auf engstem Raum zusammenpferchen und die Wirtschaft vollkommen lahmgelegt haben.

Von der näheren Zukunft ganz abgesehen, sind die Aussichten auch auf längere Sicht nicht rosig. Eine Untersuchung hat ergeben, dass 70 Prozent der palästinensischen Kinder an einem post-traumatischen Syndrom leiden. »Wenn der Wahnsinn nicht bald endet, wird eine ganze Generation der Intifada zum Opfer fallen«, sorgt sich Achmed. Doch den Widerstand gegen die Besatzer einfach beenden will auch er nicht. »Sobald in Tel Aviv Ruhe herrscht, haben die Israelis uns völlig vergessen. Die haben doch überhaupt keine Ahnung von unserem Leid und wollen es auch gar nicht wissen. Ich glaube, sie hassen uns und möchten uns am liebsten aus Palästina vertreiben.« Es ist Achmed schwer klarzumachen, dass man sich auf der Gegenseite die gleichen Sorgen macht.