Für die Linke! Für Amerika!

Wer den Kapitalismus analysieren will, muss auch dessen Wirkungsweise in der kapitalistischen Führungsmacht untersuchen. von michael hahn

Vierzig Jahre lang gehörte das Bündnis mit den USA uneingeschränkt zur Staatsräson der alten BRD. Gelegentliche Meinungs- und Interessenunterschiede zwischen den Eliten, aber auch antiamerikanische Kulturkritik an den »dekadenten« USA waren verpönt. Doch nicht erst seit dem 11. September 2001, schon seit dem 3. Oktober 1990 ist »nichts mehr, wie es war«. Kein Land, auch nicht die USA, hat in den vergangenen 13 Jahren relativ so viel an Bedeutung gewonnen wie das wiedervereinigte Deutschland.

Mit dem Aufstieg vom Juniorpartner innerhalb der Nato zur EU-Führungsmacht und zum eigenständigen weltpolitischen Akteur ist die Gegnerschaft zu den USA vom sprichwörtlichen Stammtisch (und vom hochkulturellen Feuilleton) an den Kabinettstisch aufgestiegen. Kanzler Schröder verkündet: »Die europäischen Gesellschaften (finden sich) nicht mit schreienden Einkommensgegensätzen und sozialer Ausgrenzung ab. Mit mir ist eine Amerikanisierung der deutschen Gesellschaft nicht zu machen« – während seine Regierung Renten- und Krankenversicherung (teil-) privatisiert und über Erwerbslose den Arbeitszwang verhängt. Auch Franco Berardi (Bifo) lokalisiert den »Neoliberalismus« in den USA (trotz aller postoperaistischen Rede von der »Deterritorialisierung«). Er geht wie selbstverständlich davon aus, dass sich »Europa« gegen die Hegemonie der USA positionieren müsse (Jungle World, 39/03). Warum sich die von ihm angestrebten widerständigen Netzwerke aber auf einen bestimmten Kontinent beziehen sollen (»Aufbau eines europäischen Raumes«), bleibt unklar.

An diesem Punkt unterscheidet sich Bifo nicht von dem von ihm kritisierten Jürgen Habermas, der eine »Wiedergeburt Europas« verlangt, um die USA »auszubalancieren«. Die Annahme, ein multipolares Imperium sei besser als ein unipolares (für wen eigentlich?), wird dabei stillschweigend vorausgesetzt. Hauptsache, es geht gegen die USA.

Dieser Prozess hat auch viele Linke ergriffen. In dieser Zeitung ist es wohl nicht erforderlich, dafür Beispiele aus dem Mainstream der Friedensbewegung und von der »Völkerfreundschaft« der traditionellen Antiimperialisten aufzuzählen. Wie Werner Rätz bereits angedeutet hat (Jungle World 38/03), feiern hier antiamerikanische Ressentiments gegen die geschichts- und kulturlosen, raubtierkapitalis-tischen und religiös verblendeten USA fröhliche Urständ. Was als vermeintlich besonders radikale Kritik an der Politik der USA daherkommt, reproduziert häufig nur alte Klischees und entpuppt sich oft als Parteinahme für das »eigene«, deutsch-europäische Lager.

Nun ist linke Kritik an US-amerikanischen Verhältnissen nicht nur berechtigt, sondern notwendig. Wer den Kapitalismus analysieren will, muss selbstverständlich auch dessen Wirkungsweise in der kapitalistischen Führungsmacht untersuchen. Doch Deregulierung und Sozialabbau sind keine »Amerikanisierung«, die jetzt das vermeintlich friedlichere und sozialere Europa heimsucht. Auch die US-amerikanische Ökonomie »amerikanisiert« sich.

Oft kommt es schon auf die Fragestellung an. So wurde beispielsweise beim Irakkrieg 2003 fleißig über den Einfluss US-amerikanischer Ölkonzerne auf die Regierung der USA spekuliert. Dagegen fragte kaum jemand, welche Wirtschafts- und Machtinteressen denn die französische und deutsche »Antikriegs«-Politik bestimmten. Auf diese Weise landete man fast zwangsläufig beim Ressentiment gegen die »plutokratisch« regierten USA. Dass einige Regierungsmitglieder in Washington aus der Energiebranche stammen, ist allgemein bekannt. Aber wer weiß noch, wo Schröders erster Wirtschaftsminister Werner Müller bis 1998 sein Geld verdiente? Eine Kampagne, die zum Boykott von Esso auffordert, weil dieser Konzern eng mit der Bush-Regierung verflochten sei, und die Autofahrer stattdessen zu Elf-Aquitaine schickt (www.usa-boykott.de: »Wenn schon tanken, dann bei der richtigen Tanke«), blamiert sich selbst. Oder sie baut auf das Kurzzeitgedächtnis einer linken Öffentlichkeit, die die neokolonialistischen (und kriminellen) Praktiken des halbstaatlichen Elf-Konzerns unter anderem in Afrika schon wieder vergessen – oder sich nie dafür interessiert – hat.

Dabei sollte man jedoch nicht beim bloßen Vergleichen – im Sinne von nebeneinander stellen – stehen bleiben. Ein simples »Die europäischen Konzerne sind doch genauso schlimm« ist noch keine geeignete Entgegnung auf den Antiamerikanismus. Dass es überall in der Welt Konzernmanager gibt, die moralisch verwerfliche Dinge tun, kann man getrost voraussetzen. Angesichts des kapitalistischen Zwangs zu Konkurrenz und Expansion tun sie dies bei Strafe ihres Untergangs. Im Kapitalismus kommt es auf das Verhältnis an.

Eben weil sich französische und russische Energiekonzerne mit Vorverträgen die irakischen Bodenschätze sichern wollten, hatten amerikanische und britische Firmen ein Interesse an einem Regimewechsel in Bagdad. (Womit nicht gesagt sein soll, Erdöl-Interessen seien ausschlaggebend für den Irakkrieg gewesen.) Das gilt auch für die staatlichen Akteure. Bestimmte Handlungen der Washingtoner wie der Berliner und Pariser Regierung lassen sich mit der zunehmenden transatlantischen Rivalität erklären. Wohl zu Recht weist Bifo darauf hin, »das erste und wichtigste« Kriegsziel der Bush-Administration sei es gewesen, »die EU zu besiegen«. Umgekehrt stand hinter dem europäischen Ruf nach Multilateralismus nicht größere Friedensliebe, sondern der Wunsch nach neuen weltweiten Machtverhältnissen: eine europäische Großmachtrolle und eine Eindämmung der USA.

Um dem Vorwurf des Antiamerikanismus zu entgehen, verweisen viele Linke auf US-amerikanische Kronzeugen. Deutsche Friedensdemonstranten grüßen die Friedensbewegung in den USA; Globalisierungskritiker legen Chomsky-Schriften ganz vorne auf ihre Büchertische. Das ist nicht neu. Schon die Bewegung gegen den Vietnamkrieg hielt Bob Dylan, Joan Baez und Angela Davis für Repräsentanten eines »anderen Amerika«. Und man berief sich auf die Kämpfe der »nationalen Minderheiten« oder gar der »Kolonien« in Nordamerika (schwarze Ghettos, Puertoricaner, Indianer). Damit wurde etwa die schwarze Bewegung für Emanzipation und Gleichberechtigung aus den USA ausgelagert; aus Afro-Amerikanern wurden Nicht-Amerikaner.

Solche Abspaltungen sind eine bequeme Konstruktion. Wenn es ein »anderes« (also friedliebendes, nicht rassistisches, soziales, umweltfreundliches und solidarisches) Amerika gibt, dann muss es auch ein »eigentliches« Amerika geben, und das kann man sich je nach Bedarf als kriegslüstern, rassistisch, materialistisch, klimaschädlich und raubtierähnlich zurechtdefinieren. Doch soziale Widersprüche und linke Opposition liegen nicht außerhalb der »eigentlichen« USA, sondern sind deren fester Bestandteil. (Schließlich kommt auch niemand auf die Idee, etwa französische Transportarbeiterstreiks zum Ausdruck eines »anderen« Frankreichs zu erklären.)

Beliebt ist auch die rhetorische Figur, die Bevölkerung der USA von der Kritik ausdrücklich auszunehmen und sich nur auf die Bush-Regierung (die zudem nicht demokratisch legitimiert sei) zu konzentrieren. Nach dem 11. September 2001 sei die »politische Macht innerhalb des kapitalistischen Globalisierungsprozesses in kriminelle Hände geraten«, schreibt Bifo und meint offenkundig die Bush-Regierung. Doch die USA sind keine Diktatur. Wie in anderen kapitalistischen Gesellschaften auch hat sich in den USA die übergroße Mehrheit der Bevölkerung mit den bestehenden Verhältnissen arrangiert, sei es, weil sie – in unterschiedlichem Ausmaß – davon profitiert, oder sei es auch nur mangels Alternative. Auf jeden Fall reicht es nicht, nach dem Prinzip »suche/ersetze« die Wörter »Amerika« und »USA« gegen »Bush« auszutauschen, ansonsten aber dieselben Klischees zu verbraten.

Linke Kritik muss auch die positiven Seiten der US-Gesellschaft kenntlich machen. Und zwar nicht, um eine »Ausgewogenheit« herzustellen, sondern um Beifall von der falschen Seite von vornherein zu verhindern. Beispielsweise gehört es zu einer Kritik des Rassismus in den USA, die Integrationsleistung dieses Einwanderungslandes anzuerkennen – so hierarchisch diese auch sein mag. Und zu einer Kritik an den repressiven »Patriot«-Gesetzen und am damit verbundenen Abbau von Bürgerrechten gehört der Hinweis, dass in den USA selbst manche Kommunen und örtlichen Polizeichefs ihre Mitwirkung verweigern – ein Vorgang, der in deutschen Amtsstuben undenkbar ist. Noch immer gilt, dass staatliche Kontrolle in der BRD erheblich umfassender ist als in den USA (das fängt beim Personalausweis an und hört bei der Erfassung »biometrischer« Daten noch nicht auf), dass auf jedem deutschen Bahnhof mehr »racial profiling« (die polizeiliche Praxis, dunkelhäutige Passanten gezielt zu überprüfen) betrieben wird als im gesamten US-Schienenverkehr zusammen, dass in der BRD staatliches Handeln jahrzehntelang geheim gehalten werden kann, während in den USA durch den Freedom of Information Act fast alles früher oder später ans Licht der Öffentlichkeit gebracht wird.

Linke Kritik muss mit Linken in den USA solidarisch sein. Das versteht sich von selbst, wenn man Internationalismus als linkes Essential begreift (auch wenn er heute Transnationalismus heißen müsste). Dazu gehört auch eine Kritik an den Dummheiten amerikanischer Linker – etwa wenn sie, was dort leider weit verbreitet ist, in ihrem Kampf gegen die Bush-Regierung auf die Rückendeckung durch ein vermeintlich zivileres Europa hoffen.

Michael Hahn ist Herausgeber des Sammelbandes »Nichts gegen Amerika! Linker Antiamerikanismus und seine Geschichte«, der demnächst im Konkret-Literatur-Verlag erscheint.