Gespiegelter Schwager

Eine Sonderlieferung des Bargfelder Boten bringt Neuigkeiten über Arno Schmidt. von georg d. henn

Irgendwo in Westfalen, am Rand des Teutoburger Walds, liegt eine graue Stadt, in der es immer regnet, Bielefeld. Die Bielefelder Uni besteht aus einem hohen grauen Betongebäude, vor dessen Anblick ausländische Studenten, die es durch Verkettungen unglücklicher Umstände hierher verschlagen hat, erschaudern. Was kann einen denkenden Menschen überhaupt dazu bewegen, sich auch nur eine Sekunde länger als für die Haltezeit des ICE in dieser Stadt aufzuhalten?

Ganz einfach. Ein berühmter Emeritus, der nach wie vor Literaturwissenschaft an der Universität Bielefeld lehrt – Prof. Dr. Jörg Drews. Und sein Steckenpferd heißt Arno Schmidt. Den hatte Drews in den sechziger Jahren sogar noch selbst kennen gelernt. Schmidt aber brach den Kontakt wegen eines positiven Kommentars ab, den Drews seinerzeit als Redakteur der Süddeutschen Zeitung über den berühmten Raubdruck von Schmidts Riesenwerk »Zettel’s Traum« verfasst hatte.

Das konnte Drews in den siebziger Jahren nicht davon abhalten, als begeisterter Leser unweit des Bargfelder Wohnhauses des Autors, in der berüchtigten Kaschemme »Bangemann«, die Schmidt-Forschung aus der Taufe zu heben. Um eine Spesenabrechnung glaubhaft zu machen, erfand Drews das Arno-Schmidt-Dechiffrier-Syndikat. Die Beteiligten tranken Bier und übten sich in der Exegese Schmidtscher Rätseltexte. Bald darauf war auch der Bargfelder Bote geboren. Bis heute ist diese Zeitschrift eines der wichtigsten Foren der Schmidt-Forschung geblieben, im Ein-Mann-Betrieb herausgegeben von Jörg Drews.

Nun ist zum ersten Mal in der Geschichte dieser Reihe eine Sonderlieferung erschienen, von der ihr Gründervater keine Kenntnis hatte. Der Oxforder Germanist Robert Weninger hat anlässlich des 65. Geburtstags von Drews einen Band herausgegeben, in dem elf Aufsätze einiger der international führenden Schmidt-ForscherInnen aus Deutschland, Österreich, Frankreich, den USA und Großbritannien versammelt sind.

Der erste Beiträger ist Bernd Rauschenbach von der Arno-Schmidt-Stiftung, Bargfeld. Er schreibt derzeit an einer mit Spannung erwarteten Schmidt-Biografie. Zwischenzeitlich hat er sich auf den Weg nach New York gemacht, um Eve Winer, die Tochter der 1977 in den USA verstorbenen Schwester Arno Schmidts, Lucy Kiesler, Informationen über die unbekannte Geschichte Rudy Kieslers zu entlocken: Schmidts jüdischem Schwager. Kiesler war mit Schmidts Schwester 1933 vor den Nationalsozialisten aus dem niederschlesischen Lauban nach Prag geflüchtet und von dort nach dem Einmarsch der Wehrmacht im Sommer 1939 über Cuxhaven in die USA.

Arno Schmidt selbst hat die Tatsache, dass die Judenverfolgung in seiner Familie eine derartige Rolle spielte, kaum thematisiert. Allerdings behauptete er, ein Studium, das er wohl nie aufgenommen hatte, habe er in den dreißiger Jahren abbrechen müssen, weil seine Schwester mit einem Juden verheiratet gewesen sei. Schon aufgrund solcher Ungereimtheiten ist es begrüßenswert, dass Rauschenbach jetzt beginnt, mehr Licht in diese Zusammenhänge zu bringen. Inwieweit nun aber die These seines Beitrags, die jüdischen Figuren in Schmidts Geschichten »Zu ähnlich« (1955) und »Caliban über Setebos« (1963) seien Rudy Kiesler nachempfunden, die Schmidt-Forschung weiterbringt, ist freilich eine andere Frage.

Die Annahme ist so nahe liegend wie banal, und sie bietet keine befriedigende Antwort auf die Frage, warum jüdische Figuren in Schmidts Werk mit so stereotypen Rollen bedacht werden. Die auffällige Ambivalenz ihrer Darstellung dürfte wohl nicht nur damit zusammenhängen, dass Schmidt seinen Schwager eigenen Angaben nach einmal habe »verprügeln müssen«.

Rauschenbachs biografische Rekonstruktion der Geschichte Kieslers ist trotzdem ein guter Einstieg in den Band, offenbart er doch die Tatsache, wie wenig man immer noch über die Biografie Schmidts weiß. Das, was dieser Autor in seinen Büchern über sein Leben behauptet, sollte man jedenfalls besser nicht ohne weiteres glauben.

Weningers Band spannt auf knapp zweihundert Seiten ein mustergültiges Panorama der Schmidt-Exegese auf. Karl-Gutzkow-Herausgeber Kurt Jauslin philosophiert wie immer auf hohem Niveau und beschäftigt sich mit dem ästhetischen Topos der Oberfläche bei Schmidt. Wolfgang Martynkewicz antwortet etwas verklausuliert auf eine Kritik, die Jan Philipp Reemtsma in einem seiner letzten Beiträge an Martynkewicz’ Theorie der »Selbstinszenierung« Schmidts vorgetragen hatte. Sabine Kyora sinniert über den Zusammenhang von sexueller Lust und Lesen bei Schmidt, und Karl-May-Spezialist Rudi Schweikert wälzt anhand von Schmidts »Enthymesis oder W.I.E.H« (1946) alte Wüstenkarten.

Wenn sich jedoch Timm Menke (Portland State University, USA) mit der Geschichtsphilosophie in Arno Schmidts »Kaff auch Mare Crisium« (1960) auseinander setzt, um zu zeigen, dass Schmidts »kosmisches Denken« dem gnostischen bzw. Nietzsche’schen Theorem einer »Ewigen Wiederkehr des Gleichen« folge, so betet er damit eine Erkenntnis nach, die in der Forschung längst zur bloßen Phrase erstarrt ist. Tatsächlich folgt Menkes Beitrag selbst der philologischen »Wiederkehr des Immergleichen«, wenn er nun Schmidts pessimistische Kosmogonie zum x-ten Mal an »Kaff« exemplifizieren zu müssen glaubt. Menkes Thesen sind nachvollziehbar, aber die Übung gleicht der Leistung eines Fußballers, der auf dem leeren Platz einige Hütchen umdribbelt, um den Ball aus fünf Metern Entfernung ins leere Tor zu dreschen.

»Nichts Niemand Nirgends Nie« heißt es in »Kaff«, und diese nihilistische Grundformel ließe sich auch auf den völlig überflüssigen Vorschlag Menkes anwenden, die Inspiration für das Leitmotiv des ersten zweispaltigen Romans Schmidts in dem Motto zu Nietzsches »Fröhlicher Wissenschaft« (1887) zu suchen. Längst haben sich eindimensionale intertextuelle Quellenverweise in der Schmidt-Philologie in die Sackgasse der Absurdität manövriert. Erst recht aber dann, wenn man zu unzähligen bereits vorliegenden Vorschlägen auch noch einen völlig unplausiblen hinzufügt.

Menke lässt sich die Möglichkeit entgehen, Schmidts existenzialistisch angehauchte Leviathans-Kosmogonie gegen den Strich zu lesen und herauszuarbeiten, wie der Autor in »Kaff« beginnt, weniger Nietzsches Philosophie zu propagieren, als den in jenen Jahren modischen Existenzialismus unseliger Heidegger’scher Provenienz zu ironisieren. Spätestens mit »Kaff« verabschiedet sich Schmidt phasenweise von den besserwisserischen Erzählerposen seiner Protagonisten und beginnt – wenn auch ungebrochen pessimistisch – polyphoner und selbstironischer zu schreiben.

Doch damit wäre die vorliegende Rezension bereits selbst in den Diskurs – »nicht endendes Vergnügen, sprich: selige Anspannung« (Jörg Drews) – eingetreten, die die Debatte um Schmidts Literatur bedeuten kann – gleichgültig, ob man an ihr als Leser oder als Literaturwissenschaftler teilnimmt. Diese Lager strikt zu trennen, ist im Blick auf die Sekundärliteratur zu Schmidt ohnehin unmöglich. Die eigentümliche Mixtur von Fan-Begeisterung und Wissenschaft, die hier seit drei Jahrzehnten regiert, dürfte in der Rezeption der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur einzigartig sein. In seliger Wiederholung spinnt der neue Band diese Geschichte fort.

Robert Weninger (Hrsg.): Wiederholte Spiegelungen. Elf Aufsätze zum Werk Arno Schmidts. Sonderlieferung des Bargfelder Boten. edition text + kritik, München 2003, 196 S., 23 Euro