Aus der Verfassung!

In dieser Woche wird in Rom letzte Hand an die EU-Verfassung gelegt. Die Kritiker sind auch schon da. von egon günther

Wenn man dem Papst Glauben schenken will, steht die Regierungskonferenz der EU-Mitgliedsstaaten am kommenden Samstag in Rom unter keinem guten Stern. Denn dort sollen die unter dem Vorsitz Valéry Giscard d’Estaings im Europäischen Konvent erarbeiteten Vorschläge für eine Reform des institutionellen Gefüges zur verbesserten Integration der Union und damit der Entwurf zu einer Europäischen Verfassung übereinstimmend in Rechtsform gebracht werden.

Der Vatikan und zahlreiche katholische Politiker hatten die Präambel der neuen Verfassung bereits kritisiert, weil sie darin den klaren Bezug auf die christlichen Grundlagen der europäischen Zivilisation vermissten und an seiner Stelle den Geist der Freimaurerei zu entdecken glaubten.

Tatsächlich ist der Konvent eine durchaus nüchterne Angelegenheit und bietet genügend Anlass für eine materialistische Kritik. Bereits vor zwei Jahren hatte der Europarat bei seinem Treffen in Laeken die Versammlung von Politikern aus Parlamenten, Regierungen und EU-Behörden angekündigt, die im Juni auf dem EU-Gipfel in Thessaloniki ihre Ergebnisse vorstellten. Sie folgten damit einer Methode, die man bereits bei der Formulierung der Europäischen Charta für Grundrechte erprobt hatte.

Diese Charta wurde vor drei Jahren in Nizza proklamiert und soll nun in die künftige Verfassung übernommen werden. Der italienische Ministerpräsident Silvio Berlusconi würde gerne in diesem Jahr, also noch während seiner europäischen Präsidentschaft, den Entwurf unterschreiben und der Öffentlichkeit die europäische Verfassung präsentieren. Sie könnte dann, nach ihrer bis Ende 2005 vorgesehenen Ratifizierung durch die Parlamente, die bisherigen Verträge von Maastricht und Schengen ablösen. Dadurch soll aus einer Währungsunion eine politische Union von mittlerweile 25 Ländern werden.

Für den kommenden Samstag rufen nun auch etwas andere Kritiker, denen neben demokratischen Zweifeln am legitimen Zustandekommen dieser von Bürokraten ausgeheckten Verfassung auch einige Inhalte des Protests würdig scheinen, zu zwei Demonstrationen in Rom auf.

Der Europäische Gewerkschaftsbund ETUC kritisiert vor allem, dass der Verfassungsentwurf weiterhin die Kriterien des Stabilitätspakts und die detaillierten Vorschläge zur Liberalisierung des Arbeitsmarkts beinhaltet. Den Gewerkschaften zufolge widerspricht dies einer sozial orientierten Beschäftigungs- und Wachstumspolitik. Und hinter der Betonung einer »sozialen Verantwortlichkeit der Unternehmen« ahnen sie bereits die Erosion ihrer Verhandlungsmacht. Die in den Vertragswerken angestrebte beschleunigte Liberalisierung und Deregulierung der allgemeinen Dienstleistungen, die dem Markt überantwortete Wasser- und Stromversorgung, das angestrebte Subsidiaritätsprinzip in den Bereichen Gesundheit und Bildung werden hinsichtlich der negativen Auswirkungen auf Umwelt, soziale Gerechtigkeit und Beschäftigung ebenfalls mit Sorge gesehen.

»Unaufschiebbar« ist für den ETUC auch eine Entscheidung über eine europäische Staatsbürgerschaft, die den sich legal in der EU aufhaltenden Ausländern politische und soziale Rechte, darunter das Wahlrecht, gewähren müsse. Bei der Abfassung des ersten Teils des Verfassungsentwurfs, der die allgemeinen Prinzipien und Ziele der neu zu schaffenden Europaunion behandelt, wurden die Gewerkschaften noch konsultiert. Zum dritten Teil des Konventpapiers, der die neoliberale politische Durchsetzung dieser Ziele beinhaltet, wurden sie schon nicht mehr gefragt. Der ETUC versucht, sich daher mit Reformvorstellungen von einem »sozialen Europa« wieder in die Debatte einzuschalten, und überreichte Berlusconi in der vergangenen Woche ein entsprechendes Memorandum.

Während die Gewerkschaften ihre alternativen Konzepte präsentieren, wollen die Gruppen des Europäischen Sozialforums am kommenden Samstag ihren Dissens zu der technokratischen Vereinheitlichung Europas öffentlich machen.

Ihren umfangreichen Forderungskatalog zu Bürger- und Grundrechten werden sie zusammen mit Verbrauchergruppen, Basisgewerkschaften, Migrantenausschüssen, antirassistischen Gruppen, den Kommunisten der Rifondazione, den Disobbedienti und anderen zum Teil sehr unterschiedlichen Gruppen und Bewegungen am Nachmittag des 4. Oktober auf einer Demonstration zu dem Kongressgebäude, wo die Regierungskonferenz stattfindet, präsentieren. Bereits am Vormittag wollen die Disobbedienti einzelne Störaktionen durchführen. Auch sie marschieren für ein anderes Europa, betrachten sich sogar, wie es in ihrer den Zapatisten entlehnten, gewohnt blumigen Rhetorik heißt, als »un’altra Europa in marcia«, als dessen selbst einberufene Generalstände. Ein Marsch, hin zu Selbstverwaltung und Teilhabe, zur Wiederaneignung der Güter, die der Allgemeinheit durch die Privatisierung entzogen und dann, im Wert gemindert, als schlechte Dienstleistung verkauft werden. Ein Marsch, der im November beim ersten Europäischen Sozialforum in Florenz begann und dessen weitere Etappen die großen Massendemonstrationen gegen den Irakkrieg im Februar und April dieses Jahres waren. In vielen Aufrufen zur Demonstration wird daher die globale Sicherheits- und Außenpolitik der EU thematisiert.

Einen Tag vor den verschiedenen Protestaktionen zur Regierungskonferenz wollen die dort getrennt agierenden Veranstalter jedoch noch gemeinsam im Rahmen eines internationalen Forums in der Universität von Rom an der Debatte um die Ausgestaltung eines »anderen«, demokratischen und offenen Europas teilnehmen.

In der am 4. Oktober von den Movimenti veranstalteten Demonstration wird es allerdings auch einen antikapitalistischen und sozialrevolutionären Block geben, der sich unter der Bezeichnung »Europposizione« formieren will. Diese autonome Opposition sieht ihre Rolle im Gegensatz zu den Gewerkschaften und Sozialforen nicht in der alternativen inhaltlichen Begleitung des formalen Einigungsprozesses als dessen, obschon kritische, Subjekte, die außerhalb der Institutionen agieren. Sie lehnt die Integration als autoritäres Kontrollprojekt, das sich mit einem ausgeklügelten System aus Rechten und Pflichten bloß einen Anschein demokratischer Legitimation geben will, rundweg ab.

Unabhängig von den Absichten der Gruppen, die vor den Kongresspalast ziehen wollen, könnte der Anlass von vielen unzufriedenen Italienern genutzt werden, einfach gegen die von der Regierung geplante Rentenreform und den neuen Sparhaushalt zu demonstrieren.

Am 17. Oktober wollen bereits die Metallarbeiter streiken. Der Sekretär von Rifondazione, Fausto Bertinotti, sieht gar die Zeit reif dafür, Berlusconi vorzeitig zu Fall zu bringen, und schlägt eine Großdemonstration der Opposition für Ende Oktober vor, ähnlich derjenigen, die am 25. April 1994 in Mailand den Sturz der ersten Regierung Berlusconi einleitete.

Manche sehen bereits für den 4. Oktober die Möglichkeit, das Ende Berlusconis herbeizuführen. Doch die Vorbereitungsgruppe des Europäischen Sozialforums besteht darauf, dass sich die Mobilisierung auf die Fragen eines »anderen« Europa konzentrieren müsse und keine rein italienische Angelegenheit sei.