Die Räume zurückerobern

Ein besetztes Zentrum zwischen radikaler Veränderung von unten und Selbstverwaltung des Elends. von jessica zeller, buenos aires

In Argentinien beginnt der Frühling. Zeit auch für die sozialen Bewegungen, mal wieder vor die Tür zu gehen. »La Trama« (etwa: »Die Handlung« oder »Die Tat«) nannte sich das Festival, zu dem die Stadtteilversammlung von Palermo Viejo in Buenos Aires vor anderthalb Wochen aufrief. Das Motto: die Räume zurückerobern.

Vor knapp einem Jahr besetzten die knapp 30 Mitglieder den alten Markt in der Straße Bonpland. Nachdem sie zunächst von der Polizei empfangen worden waren, genehmigte die Stadtverwaltung nach längeren Verhandlungen ein Jahr Nutzungsrecht. Das Ziel ist jetzt, diesen Vertrag fünf weitere Jahre zu verlängern und den Ort zum »historischen Kulturerbe« zu erklären. Die Entscheidung darüber wird in zwei Wochen fallen.

Die Asamblea möchte hier ein Zentrum solidarischen Wirtschaftens einrichten. »Der Markt wurde 1914 für die Unterschichten eingerichtet, die hier lebten. Er war das Zentrum des Viertels. Es ist ein symbolischer Ort«, erklärt Laura Martin von der Asamblea. »Dieser Teil des Viertels nennt sich ›Palermo Hollywood‹, weil hier vor allem Designer und schicke Bars ansässig sind. Wir wollen hier wieder ein Zentrum der Begegnung einrichten.«

Besetzte Fabriken, Kooperativen von Arbeitslosenorganisationen und 15 Stadtteilversammlungen aus dem ganzen Land sollen hier ihre Produkte anbieten können. Auf einem »sozialen Markt mit gerechtem Handel« sollen Produzenten und Käufer sich eigenständig über die Preise verständigen. Jeder soll nur so viel zahlen, wie er oder sie kann. Ein kleiner Teil der Erlöse soll abgegeben werden, damit sich das Zentrum selbst verwalten kann.

Außerdem soll es eine Theaterwerkstatt und mehrere Räume geben, die verschiedenen Gruppen zur Verfügung stehen. »Wir wollen hier die Leute aus den verschiedensten Hintergründen zusammenbringen. Denn politische Praxis bedeutet, nicht nur unter sich zu bleiben«, erzählt Lauras Mitstreiter Enrique Telledea. Er sieht die Funktion der Asamblea vor allem als Multiplikator. »Wir sind alle ziemlich politisiert, aber das soll nicht heißen, dass jeder, der mit uns zu tun hat, das gleiche denken muss.«

Im letzten Jahr hat sich die Asamblea vor allem um die Renovierung des Gebäudes gekümmert. Nachdem hier mehr als zehn Jahre keiner mehr gewesen war, waren die Fenster kaputt und die Wände einsturzgefährdet. Die grundlegenden Maurerarbeiten übernahmen die Piqueteros vom MTD La Matanza, mit denen die Asamblea schon länger in engem Kontakt steht. »Mit den Erlösen vom Festival im Mai und von dem an diesem Wochenende bezahlen wir die Arbeiter, denn klar ist, dass wir was gegen die Arbeitslosigkeit unternehmen wollen und nicht etwas für die Ausbeutung«, so Enrique. »Außerdem müssen wir für Strom und Wasser aufkommen. Aber momentan sind wir noch nicht in den Miesen.«

Mehr als 300 Mitstreiter und Besucher kamen diesmal zu dem vielseitigen Programm, das neben Ständen verschiedenster Gruppen aus den sozialen Bewegungen, Workshops und kulturellen Angeboten vor allem politische Diskussionsrunden beinhaltete. Die Gesprächsrunde, bei der Vertreter von fünf verschiedenen Asambleas über ihre Erfahrungen der letzten Zeit berichteten, zeigte, wie unterschiedlich basisdemokratische Organisierung außerhalb von Parteien aussehen kann. »Uns war ziemlich schnell klar, dass der Parole ›qué se vayan todos‹ (alle sollen abhauen) etwas folgen muss. Wir wollten im Stadtviertel und nicht nur bei Cacerolas vor dem Regierungsviertel aktiv werden«, erzählt Jorge Murcocioli von der Asamblea Parque Patricios und verweist auf verschiedene Workshops, eine Bibliothek und ein Essenszentrum, das die Basisaktivisten ins Leben gerufen haben.

Ana Fernández von der Asamblea aus dem Oberschichtsviertel Belgrano berichtet von den Schwierigkeiten, die ihre Gruppe dabei hat: »Wir treffen uns in einer leer stehenden Bank, allein das ist schon seltsam. Und wie willst du dich unkritisch auf ein Stadtviertel beziehen, in dem die Mehrheit rechts wählt und außerdem nur ihre Ruhe haben will?«

Auf dem Podium ist auch Luis Mattini. In den siebziger Jahren war er bei der Guerilla ERP (Revolutionäre Volksarmee), deren Mitglieder fast alle in der Zeit kurz vor und während der Militärdiktatur umgebracht wurden. Heute ist er bei der unabhängigen Internetzeitung La Fogata aktiv. »Wenn man mich vor zwanzig Jahren gefragt hätte, was ich von den Forderungen nach wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Freiräumen hielte, hätte ich geantwortet: purer Reformismus. Aber hatten die Parteiorganisationen, deren Ziel die Übernahme staatlicher Macht war, letztlich Erfolg? Ich denke, heute muss man die Strategie ändern: Radikale Veränderung kann nur von unten kommen.«

Auf die Frage aus dem Publikum, wie sich die Situation für die sozialen Bewegungen nach der Wahl von Präsident Kirchner geändert hat, gibt es unterschiedliche Reaktionen. Ein Mann von den Piqueteros aus Lanús aus der Provinz von Buenos Aires geht davon aus, dass Repression und Kanalisierung des Protestes gleich bleiben, egal wer an der Spitze der Regierung ist. Andere denken, dass bestimmte Veränderungen im offiziellen Diskurs auch eine positive Wirkung haben können, da man in bestimmten Situationen vielleicht bessere Verhandlungspositionen hat. Gerade bei der Besetzung von Gebäuden müsse man auch einen gewissen Pragmatismus an den Tag legen.

Auf einer anderen Veranstaltung stellte Toty Flores vom MTD La Matanza das erste unabhängige Schulprojekt von Arbeitslosen vor. Die Piqueteros haben eine ehemalige Privatschule besetzt, die Renovierungsarbeiten sind fast abgeschlossen, und die Schule soll im nächsten Jahr eröffnet werden. Finanziert werden soll das Projekt mit Spenden und Geldern von Nichtregierungsorganisationen aus Argentinien. Außerdem gibt es viele freiwillige Helfer.

Der MTD La Matanza ist die einzige Organisation der Piqueteros, die auf das Geld aus den Sozialplänen der Regierung verzichtet. »Unsere Position war schon von Beginn an marginal. Aber uns war klar, dass wir nicht nur unseren Arbeitsplatz verloren hatten, sondern dass auch eine Kultur von Arbeit und Bildung nach und nach verschwindet und man immer mehr abstumpft – gerade wenn man die Armut nur verwaltet. Deswegen haben wir vereinbart, dass jeder von uns arbeitet. Entweder Gelegenheitsjobs oder bei der Bäckerei und den zwei Werkstätten, die wir haben«, so Flores.

Auf die Frage, wie der Kontakt mit dem Rest der Piqueteros aussieht, meint er: »Die meisten finden sich tatsächlich mit der Unterstützung des Staates ab und resignieren. Man sollte die Wirkung von Polizeiangriffen und Punteros (Schutzgelderpressern) ja auch nicht unterschätzen. Wir bewachen das Gebäude der Schule rund um die Uhr. Allerdings, der MTD Aníbal Verón verwaltet die Gelder selber und hat Projekte, und auch sonst gibt es vereinzelte aktive Gruppen.« Und die linken Parteien? »Wir sind nicht per se gegen Parteien, aber die linken Parteien haben es oft an Sensibilität fehlen lassen und wollten uns nur einspannen. Da müssen sie dazulernen, nicht wir.«