Gurken zu Krummsäbeln

Die Kunst-Biennale in Istanbul fragt nach den Folgen des 11. September und schießt aus Gemüsepistolen. von sabine küper und thomas büsch

Unter den schweren Kronleuchtern des Ballsaales hängen Rauchschwaden. Der Geräuschpegel steigt, er kommt von Stimmengewirr und wohltemperiertem Klavier, dazu Sushi als Vorspeise eines nicht enden wollenden Mehrgang-Menüs. Wein und immer mehr Wein. Aufmerksam um das kostbare Blumenschmuckensemble dekoriert, liegen ganz viele Zigarettenschachteln. Marlboro Lights oder Medium, Laxtikum, Camel mit und ohne Filter, Winston blau, rot oder weiß, More und viele, viele Sorten mehr. Am Ende des Banketts im Istanbuler Swisshotel sind die Gäste übersatt, halb betrunken und haben einem Klavierkonzert gelauscht, das jedem Konzertsaal dieser Welt alle Ehre gemacht hätte, das nur leider in regelmäßigen Abständen von peinlichen Ausbrüchen des Virtuosen unterbrochen wurde, der »JTI« als Gönner seiner Muse und der Musen überhaupt gepriesen hat. Ein hübsches Filmchen über Tabakanbau haben die Gäste auch noch gesehen, und immer blinkt überall: JTI, JTI. Viele Besucher stopfen sich im Vorbeigehen die Taschen mit Zigarettenschachteln voll. JTI steht für Japan Tobacco International und für sehr viel Geld.

Das ist keine Vision aus einem Fellini-Film, sondern eine relativ exakte Wiedergabe der Atmosphäre beim Galadinner der 8. Kunst-Biennale in Istanbul. Tatsächlich ist die von Dan Cameron, der ansonsten das New Museum of Contemporary Art leitet, kuratierte Kunst-Biennale mit dem schwülstigen Titel »Poesie und Gerechtigkeit« eines der bestzusammengestellten Kunstevents, das Istanbul je gesehen hat und das auch mit der Veranstaltung, die Venedig jedes Jahr bietet, durchaus mithalten kann. Gleichzeitig drängt sich die Frage auf: Was passiert, wenn ein Amerikaner, der aus einer Raucher-Apartheidspolitik betreibenden Stadt kommt, nach dem 11. September eine Ausstellung in Istanbul kuratiert, deren bombastisches Budget durch einen japanischen Tabakkonzern abgesichert wird? Die Antwort lautet in unserem Fall: Gute Kunst am passenden Ort, wobei über der Kunst jedoch wie blauer Dunst ein Hauch von Ironie hängen bleibt.

Ohne Zweifel bestand an keiner Istanbuler Biennale-Eröffnung bisher so viel Interesse seitens des amerikanischen und europäischen Auslands wie an dieser, obwohl Ausstellungen wie die von René Block, dem Leiter der Kunsthalle Fridericianum in Kassel, 1995 kuratierte Schau konzeptionell durchaus mithalten konnten. Das neue Interesse zeugt von einer geschickten Strategie der Türkei, sich zum Mittelpunkt eines Kulturevents zu machen, das seine periphere Lage nutzt, um eine Globalisierungskritik aus dem Blickwinkel eines Kurators zu üben, der die Konflikte um die Hegemonialstellung seines Heimatlandes in Politik und Kunst zum eigentlichen Thema der Ausstellung macht. Gleichzeitig nutzt der Kurator natürlich die eigene hegemoniale Position, um mit dem Geld des drittgrößten Tabakkonzerns der Welt mehrere hundert Journalisten und Kritiker an den Bosporus zu karren; das war seinen Vorgängern einfach nicht möglich, und deshalb blieb die kleine, seit Jahren aber eigentlich feine Istanbuler Biennale bis heute fast wenig beachtet.

Die Aufgabe der Künstler war anspruchsvoll. Sie sollten sich mit den Brüchen beschäftigen, die die Globalisierung und der 11. September und seine Folgen in der Welt und vor allem an der Peripherie hervorgebracht haben. Gleichzeitig sollte die Kunst als Objekt genauso subversiv, störend und aggressiv sein wie unsere heutige Realität. Das ästhetische Konzept der Ausstellung wirkt in dem endlosen Katalogtext fast abschreckend, es hat jedoch die meisten Künstler tatsächlich zu einer mottobezogenen Auseinandersetzung mit sehr vielfältigen Ergebnissen inspiriert. Zum Beispiel Kendell Geers aus Südafrika. Bekannt wurde er durch seine Entweihung des Duchampschen Pissoirs im Palazzo Grass, in das er einfach hineinpinkelte, und berühmt ist er für seine Art, ortsbezogene, oft aggressive Kunst zu schaffen, etwa die erdolchte, mit Bauklebeband umwickelte Marienstatue in Oberammergau. Im Katalogtext bekennt er sich zur Identität des Künstlers als »TerroRealist«. In einer Welt, die sich seit zwei Jahren nicht mehr vor dem Fernseher und hinter Girlie-Magazinen verkriechen kann, sondern die nach einer langen Phase der Apathie mit Kulturbrüchen, heiligen Kriegen, Chaos und Revolution konfrontiert wird, ist die Arbeit des Künstlers nicht mehr neutral oder selbstbezüglich, Kendell proklamiert den »TerroRealismus«. Am wörtlichsten nimmt der japanische Künstler Ozawa Tsuyoshi dieses Konzept. Er baute auf der Galerie der altehrwürdigen byzantinischen Hagia Sofia ein Nylongewächshaus auf, in das er Fotos von jungen Türkinnen mit Maschienenpistolen-Modellen aus Gemüse hängte. Das Projekt wird von einem künstlerischen Ritual begleitet, das Tsuyoshi mittlerweile in verschiedenen Ländern durchgespielt hat. Er sucht und findet bereitwillige weibliche, junge »Kunst-Subjekte«, die mit ihm auf dem Wochenmarkt die Zutaten für typische lokale Gerichte kaufen. Daraus bastelt der Künstler seine Gemüsewaffen. Die Subjekte, wie er sie selbst nennt, werden fotografiert und danach feiert man gemeinsam eine Party, auf der aus der Gemüsepistole zubereitete Gerichte verspeist werden. Dass sein Material sowohl zu einem Symbol des Konflikts wie des Dialogs mutieren kann, zeigt für ihn, dass Freundschaft oder Feindschaft meist eine Interpretationsfrage sind.

Das Künstlerkollektiv xurban.net aus Istanbul und New York thematisiert im größten Ausstellungsraum »Antrepo«, einer großen Hafenlagerhalle am Goldenen Horn, wo verschiedene große Luxusliner an- und ablegen, wie der jeweilige Erfahrungshintergrund und die Realitäten des Künstlers in den Schaffensprozess einfließen. In der Ausstellung sieht man Großformat-Fotos von Landschaften im Südosten der Türkei nahe der irakischen Grenze. Ruinen unzähliger Öltanker stehen in der kargen, nach jahrelangen Kämpfen zwischen PKK und türkischem Militär verlassenen unbestellten Landschaft. Der nun zum Stillstand gekommene Ölschmuggel hat der Region die letzte Existenzgrundlage genommen. In der Mitte des Ausstellungsraums prunkt ein riesiger verrosteter Öltank.

Die palästinensische Künstlerin Emily Jacir arbeitete zwei Jahre an dem Projekt »Woher kommen wir?«. Sie befragte 30 palästinensische Exilanten, warum sie nicht mehr in ihre Heimat einreisen können und ließ sie einen Wunsch äußern. Johnny aus New York, der bereits im Exil geboren wurde, weil seine Eltern 1948 Jerusalem für immer verlassen mussten, bat sie etwa, das Haus seiner Eltern zu finden und zu dokumentieren, wer darin jetzt wohnt. Jacir machte sich auf, fand das Haus, bat die israelischen Bewohner um ihre Namen und ihre Lebensgeschichten, schrieb sie auf und überreichte sie Johnny zusammen mit Fotos des Hauses. Entstanden ist eine in ihrer Schlichtheit umso beeindruckendere Dokumentation einer Reise in das Leben und die Vergangenheit von 30 Menschen. Der Amerikaner Tony Feher blieb seiner Arbeitsweise, etwas aus nichts zu produzieren und sich von niemandem für ein Ziel oder Motto instrumentalisieren zu lassen, treu. In der Hagia Sofia, einem der Sieben Weltwunder, in der sowohl das Christentum als auch der Islam eine Kultstätte sehen, beklebte er die unteren Teile der Fenster mit blauem Kreppklebeband, das ein bläulich transparentes Licht erzeugt.

Konzeptionell genial designt und von viel blauem Rauch finanziert: Projektionszellen im unteren Geschoss des Antrepo. Der spanische Architekt Marcos Corrales Lantero hat funktionale Zellen aus Kunststoff gebaut, in deren Innerem der Besucher ungestört Videoinstallationen auf sich wirken lassen kann. Man befindet sich in einer schallisolierten Kabine, bekommt aber keine klaustrophobischen Anfälle, denn das Ganze ist architektonisch überzeugend gelöst und spielt mit der Formensprache der islamischen Ästhetik. Im Großen und Ganzen ist diese Biennale also ein kulturelles Ereignis, dessen Topografie die thematisierten Spannungsfelder noch unterstreicht.