Prügeln tut man im Ring und für Kriege gibt’s das Brett

Eine Runde Schach, eine Runde Boxen, dann Schach, dann wieder Boxen und so weiter. In Berlin gab es die Weltpremiere einer ungewöhnlichen Sportart. von rob savelberg

Mitten in der deutschen Hauptstadt hauen sich zwei blonde Holländer ordentlich auf die Fresse. Mit gelben und roten Boxhandschuhen ausgerüstet, schlagen sie sich das Blut aus der Nase. Dann ertönt ein Gong. Die zweite Boxrunde ist vorbei. Jetzt geht’s schnell rüber zum Schachspielen – im gleichen Ring. Trainer wischen Blut und Schweiß weg, ziehen die Handschuhe aus und bereiten die Kämpfer »Iepe the Joker« und »Luis the Lawyer« auf die Schachrunde vor. Ein spärlich bekleidetes Modell mit praller Oberweite zeigt dies an.

Schachboxen – die ultimative Kombination des harten Boxens und des konzentrierten Brettspiels scheint absurd. Das Publikum ist jedoch begeistert. Besucher Peter Sandhaus: »Das ist doch lustig so. Sich prügeln tut man im Ring und Kriege führt man auf dem Brett.«

In einem Hinterhof in der Weinmeisterstraße amüsiert sich das Partyvolk aus Berlin-Mitte bei der Open-Air-Show. Vier große Flutlichtscheinwerfer beleuchten die Kämpfer, ihre Bewegungen werden mit einem Beamer direkt auf eine Häuserwand projiziert und von Experten kommentiert.

Die Atmosphäre an diesem Sommerabend hat etwas Mysteriöses. Einerseits entsteht beim Boxen viel Aufregung, schließlich bekommt man für drei Euro nicht immer einen so schönen Kampf zu sehen. Beim Einmarsch der Sportler hallt Rapmusik über das Gelände. Andererseits, wenn der Gong für die nächste Schachrunde ertönt, herrscht absolute Stille. Nur die beiden Schachanalysten Jan Schulz und Andreas Dilschneider sprechen über Stellungsmöglichkeiten, Versageralbträume und sonstige Schachsymbolik. »Weiß bringt jetzt seinen Läufer zum C4, so verlagert sich das Spiel. Schwarz muss auf seine Königsflügel aufpassen. Aber bis zur nächsten Boxrunde ist nicht mehr viel Zeit«, spricht Dilschneider leise ins Mikrophon.

Zuvor haben sich die Schachboxer hinter den Schaufenstern zweier Schiffscontainer warmgemacht, die unweit des Hackeschen Marktes aufeinander gestapelt sind. Die Veranstalter von der Firma Platoon Cultural Development haben darin Leuchtkästen aufgebaut, so dass das Publikum wie im alten Rom freien Blick auf die beiden Gladiatoren hat. Vorbeispazierende Touristen wundern sich.

Die Schachboxregeln hat die WCBO aufgestellt, die World Chess Boxing Organisation. Sechs Runden Schach von jeweils vier Minuten wechseln mit fünf Runden Boxen à zwei Minuten ab. Auf einer elektronischen Schachuhr ticken die Sekunden. Gewinnen kann man durch Schachmatt, einen technischen K.o., das Eingreifen des Schiedsrichters oder das Ablaufen der Schachzeit. Wenn es beim Schach zum Patt kommt, entscheiden die Punktrichter beim Boxen.

Der bewegliche Luis the Lawyer weiß Iepe the Joker beim Boxen schnell festzusetzen. Ständig läuft der in die ausgestreckte linke Faust seines Gegners. (»Ich war noch nicht warm, hatte noch keinen Rhythmus.«) Der Lawyer offenbart aber relativ schnell eine Schwäche im Schach – da verliert er den Springer. Und ab der dritten Boxrunde findet der Joker seine Konzentration beim Boxen wieder. Jetzt ist der Kampf ausgeglichen.

Das männliche Publikum mischt sich immer mehr ein: »Ja! Hau ihn in die Fresse!« Die zahlreichen Frauen gucken eher erschreckt. Dann gewinnt der Joker durch ein Matt in der siebten Runde. Schreiend vor Freude tanzt er im Ring und schießt Champagner auf seinen Gegner und in die Menge.

Die Schachboxer kommen beide aus Holland. Modell für die von Iepe the Joker erfundene Sportart war das Comicheft »Der kalte Äquator« von Enki Bilal aus den neunziger Jahren. Der Joker heißt in Wirklichkeit Iepe Rubingh, ist 29 Jahre alt und lebt als Künstler in Berlin. Sein Gegner Luis the Lawyer heißt Jean-Louis Veenstra, 30, und arbeitet als Anwalt in Amsterdam.

Iepes Biographie liest sich wie die Story eines Enfant Terrible. Nachdem er 1997 von Amsterdam nach Berlin gezogen war, baute er die Mauer am Potsdamer Platz wieder auf, um gegen das Verschwinden des deutschen Geschichtsbewusstseins zu protestieren.

In einer dunklen Hinterhofwohnung in Prenzlauer Berg schmiedete er seine Künstlerpläne und mutierte zum Hofnarren, der den Hackeschen Markt mit zehn Mitstreitern mit Polizeiband absperrte.

Etwas ähnliches wiederholte er in Japan: Im Narrenkostüm stellte er sich Flöte spielend auf die wichtigste Kreuzung Tokios. Sofort wurde Iepe the Joker verhaftet und konnte nur mit Hilfe niederländischer Diplomaten aus der Untersuchungshaft freikommen. Als dritte Station war im September 2001 New York geplant, daraus wurde aus welthistorisch bekannten Gründen nichts.

Iepes Gegner, Luis the Lawyer, ist der Underdog im Spiel bzw. Kampf gegen den Joker. »Es fiel mir schwer«, erzählt der Lawyer nach dem Spiel bzw. Kampf erschöpft in der Kabine. »Ich musste nicht nur gegen Iepe, sondern gegen die ganzen Massen kämpfen, die nur ihm zugejubelt haben.« Wie der arme Sylvester Stallone, der in Rocky IV als Außenseiter in Russland mutterseelenallein den Sowjetstar Ivan Drago niederkämpfen musste. Der nächste Kampf wird jedoch kein Heimspiel für Iepe sein. Trotzdem gibt er sich optimistisch: »Ich werde trainieren wie ein Tiger. Ich haue ihn aus dem Ring hinaus und zerschmettere ihn auf dem Brett!«

Am 14. November dieses Jahres findet im Amsterdamer Paradiso die erste Weltmeisterschaft des neuen Sports statt. Berliner Fans können mit einem Shuttleservice dorthin gelangen (www.iepe.net/mojo/mojo.cgi). In der ehemaligen Kirche Paradiso werden reine Profiboxkämpfe und reine Großmeisterschachpartien ausgetragen. Dann aber treten The Lawyer und The Joker an, um auszumachen, wer sich The First Official WCBO-Worldchampion nennen darf. Danach wird das Sportereignis mit einer großen Party abgeschlossen.

Demnächst wird der Sport auch universitär erforscht. Sportwissenschaftler wollen analysieren, wie der schwierige Übergang vom Boxen zum Schachspielen funktioniert. Sie werden zum Beispiel während des Kampfes messen, wie viel Laktatsäure die Schachboxer produzieren, wie ihre Herzfrequenz und ihr Adrenalinpegel sich verhalten, und man will herausfinden, warum der Überschuss an Adrenalin das mathematische Denkvermögen erschwert.

Was soll man nun vom Schachboxen halten? Ist es nur ein neuer Sport, vielleicht demnächst eine olympische Disziplin? Ist es Entertainment, pure Show und eine weitere Schlacht auf dem Feld der Spaßguerilla? Kann man es als bloße Kunstperformance betrachten, veranstaltet und durchgeführt von einem ehrgeizigen Künstler, der ein immer größeres Publikum sucht?

Das Spannende am Schachboxen ist die Komplexität, die Kombination aus Denkachterbahn und Kampfmaschine. Der Joker sagt: »Ich will Geist und Körper perfekt kontrollieren.« Ein Gesamtkunstwerk eben.

Im Juni 2004 wird in Berlin die zweite Schachboxgala stattfinden. Voraussichtlich wird dann auch der erste Schachboxverein der Welt in Berlin-Prenzlauer Berg gegründet.