Es geht ums Ganze

Obwohl sich in Europa zunehmend autoritäre Herrschaftsformen etablieren, fällt die linke Kritik bescheiden aus. von andreas dietl, brüssel

Bescheiden ist sie geworden, die Linke in Europa: Am vergangenen Samstag organisierte das europäische Sozialforum ein »Forum für konstitutionelle Demokratie«. Dort wurde über universale Menschenrechte debattiert, über Gleichheit in politischer und sozialer Hinsicht sowie vor dem Gesetz, über das Recht auf körperliche Unversehrtheit, über den Pazifismus als Grundwert und demokratische Teilhabe und Laizismus – kurz, könnte man sarkastisch sagen, über den Gründungskonsens der Grünen.

Das Treffen war eine der Gegenveranstaltung zu der EU-Regierungskonferenz am vergangenen Wochenende in Rom. Im Palazzo dei Congressi gingen die Beratungen der Staats- und Regierungschefs der 15 EU-Staaten und zehn Beitrittländer über eine europäische Verfassung in die erste Runde. Die Regierungskonferenz ist zunächst auf drei Monate angesetzt. Bis zum Ende des Jahres sollen alle Streitpunkte, etwa die künftige Stimmengewichtung im Ministerrat, geklärt sein.

Für die Gegenveranstaltungen zeigten die versammelten Regierungschefs erwartungsgemäß kaum Interesse. In einem Europa, das von autoritären Liberalkonservativen mit unterschiedlichen Parteibüchern (darunter auch solchen der Grünen) regiert wird, mögen selbst Diskussionsforen zu Menschenrechten und Pazifismus als linksradikaler Diskurs durchgehen.

Und welche Bedeutung hat dieser Diskurs für die Linke? Muss man sich auch dann damit beschäftigen, wenn man sich nicht auf dieses Europa des so genannten postideologischen Zeitalters beziehen will? Anders gefragt: Soll man nun wirklich anfangen, einen europäischen Verfassungspatriotismus zu predigen, nur weil das, was einmal die herrschende Klasse hieß, längst auf sämtliche Normen pfeift, seien sie nun konstitutioneller, ideologischer oder schlicht moralischer Art?

Italien ist in einer Hinsicht der europäischen Realität voraus: Zunehmend setzt sich bei der Linken dort die Wahrnehmung durch, dass es mittlerweile ums Ganze geht. Nicht nur die alten und nicht ganz so alten Forderungen der Linken von der Vergesellschaftung der Großindustrie bis zu offenen Grenzen entfernen sich immer mehr von der gesellschaftlichen Realität, dasselbe gilt auch für das Programm der gewerkschaftlichen und bürgerlichen Linken, für Arbeitszeitverkürzung, Lohnanpassung und betriebliche Mitbestimmung. Seit dem Machtantritt der Regierung Berlusconi sind nun auch die Programme rechtsbürgerlicher Parteien zum alten Eisen erklärt worden, selbst wenn diese wie einige Fraktionen der Christdemokraten an der Regierung beteiligt sind.

So urbürgerliche Errungenschaften wie Monopolkontrolle, Unabhängigkeit der Justiz, ja das gesamte Prinzip der Rechtsstaatlichkeit stehen zur Disposition. Hatte man zu Zeiten der Mani-pulite-Prozesse etwas hochtrabend vom Beginn der Fünften Republik gesprochen, so redet man jetzt mit größerer Berechtigung vom Ende der Republik.

Mit der EU-Verfassung, deren vom Brüsseler Konvent ausgearbeiteter Entwurf am Wochenende feierlich den 25 Staatschefs der Groß-EU zum Ausschlachten übergeben wurde, hat das eine ganze Menge zu tun. Schließlich nimmt sich der Verfassungsentwurf eine ganze Menge vor. Für die Präambel wird Thukydides bemüht: »Unsere Verfassung wird Demokratie genannt, weil die Macht nicht in den Händen einer Minderheit liegt, sondern bei der Mehrheit.« Das stimmte schon im Athen zur Zeit der Peloponnesischen Kriege nur, weil die Frauen und die Sklaven, von der die Polis wirtschaftlich abhing, einfach nicht mitgezählt wurden.

Im Europa von heute ist der Bevölkerungsanteil, der ganz offiziell gar nichts zu melden hat, in der Minderheit und wird es auch bleiben. Dafür sorgt ein Grenzregime, dem immer noch ein toter Afrikaner in der Meerenge von Gibraltar lieber ist als ein lebender am Strand von Tarifa. Aber auch unter der eingeborenen Bevölkerung, die nominell – so ist wohl das Thukydides-Zitat zu verstehen – die Macht im Staat Europa in Händen halten sollte, will das Gefühl nicht verschwinden, dass dem vielleicht gar nicht so ist.

Da kann in Brüssel und in Rom, in Berlin oder Paris noch so viel Symbolpolitik betrieben werden: Der Bevölkerung entgeht es nicht, dass ein demokratischer Meinungsbildungsprozess selbst nach den ja ohnehin schon ziemlich abstrakten bürgerlichen Maßstäben nicht mehr stattfindet. Das hat vielerlei Ursachen, und keine davon wird von dem Verfassungsentwurf beseitigt.

Am wenigsten macht es wahrscheinlich aus, dass das EU-Parlament in den Fragen, die große Teile der Bevölkerung nun einmal interessieren, in der Innen- und noch krasser in der Außenpolitik, nichts bis gar nichts zu sagen hat. Solange in Strasbourg und Brüssel kräftig und bedeutungsvoll palavert und ausdauernd abgestimmt wird, fällt es schließlich kaum jemandem auf, dass die ganzen schönen Beschlüsse anschließend vom Rat wieder kassiert werden.

Schlimmer fällt es dagegen schon ins Gewicht, dass die Entscheidungsprozesse, die ja nun irgendwo stattfinden müssen, vollkommen undurchsichtig sind. Selbst die vertrauten und verhassten Berliner Minister verschwinden hinter einer Maske der Anonymität, wenn sie das Brüsseler Ministerratsgebäude betreten. Der ewige Verlierer bei diesem Spiel ist die Kommission, eine Art ausgelagerter und geringfügig aufgewerteter Beamtenapparat, der seine wichtigste Nebenfunktion als Adressat für den gesammelten Bürgerzorn hat.

Das wäre alles zu verkraften, wenn es der EU gelänge, den Eindruck zu vermitteln, dass sie so etwas wie einen Wählerwillen repräsentiert. Das Gegenteil ist der Fall. Zu den wirklich bedeutsamen Fragen – Euro-Einführung und Ost-Erweiterung waren die beiden letzten Beispiele – wurde in den meisten EU-Staaten jede Äußerung des Wählerwillens unterbunden. Wo Abstimmungen stattfanden und so verliefen, wie es den jeweiligen Regierungen nicht passte, wurden sie nach einer kurzen Schamfrist wiederholt, auf dass die Wähler noch einmal Gelegenheit hätten, endlich zur Vernunft zu kommen. Man mag den Euro für eine ganz feine Sache halten und die Zukunft der EU in der Abdeckung ganz Europas sehen – für diese Art von Demokratie wird man dennoch kaum überzeugende Argumente finden.

Wo schon die Äußerung von Protest mit einem so harmlosen und für die Herrschenden vergleichsweise einfach zu handhabenden Mittel wie dem Abstimmungszettel nicht gestattet ist, da ist es nur logisch, dass auch andere Formen des Protests unterdrückt werden. Das ist die eigentliche Ursache der fortschreitenden Brutalisierung von Polizeieinsätzen bei EU-Gipfeln. Neuerdings versucht man, den Volksmassen dadurch zu entkommen, dass man, wie es während der griechischen Ratspräsidentschaft mehrmals der Fall war, in entlegene Landesteile mit leicht zu kontrollierenden Zufahrtsstraßen ausweicht. Gleichzeitig arbeitet man in Brüssel an einer Art Zwingburg für ganz Europa, einer EU-Zone mit eigener Polizeihoheit, die sich gegen die Außenwelt hermetisch abriegeln lässt.

Wenn diese Entwicklung mit der derzeitigen Geschwindigkeit fortschreitet, dann wird unsere Zeit einmal als Periode des Übergangs von der bürgerlichen Demokratie zu einer neuen Form der sanften autoritären Herrschaft beschrieben werden – falls es den Historikern dann noch erlaubt sein sollte, dergleichen zu beschreiben.

Dann schwänden aber auch die Handlungsmöglichkeiten für so gut wie alle Arten von linker Opposition, wie sie sich seit dem zweiten Weltkrieg herausgebildet haben. Vielleicht lohnt es sich also doch, für die konstitutionelle Demokratie in Europa auf die Straße zu gehen.