Spätnachts im Spartenprogramm

Petra arbeitet für das Kulturfernsehen und hasst es insgeheim. Bei einem Interview mit dem Avantgardefilmer Rümmele verliert sie die Beherrschung. von dietmar dath

»Der Beruf KulturvermittlerIst noch scheußlicher als Hitler«

Friedrich Schiller

Petra Schott sitzt schweigend neben ihrem Kameramann Stefan Zettner und raucht ihre dritte P&S, seit das Team vor einer Dreiviertelstunde losgefahren ist. Petra raucht aus Prinzip und gegen Kopfschmerzen. Sie hat immer Kopfschmerzen, denn ihr Leben ist zerstört.

Die beiden Beleuchter, die Petra und dem Kameramann gegenüber im geräumigen Transporter sitzen, lesen in einer Bild-Zeitung herum.

Petra gähnt. Sie ist 34 Jahre alt und kommt sich älter vor, denn sie hat vor einiger Zeit in Hamburg Kunst studiert, weil sie als 19jährige Abiturientin in der Kunsthalle Düsseldorf eine lebensverändernde Ausstellung erleben durfte. Beim Kunststudieren altert man sofort um Jahre, einfach durch Immatrikulation, dann setzt natürliche Verwitterung ein.

Während ihres Studiums hat Petra mäßig tolle Kreidezeichnungen, Assemblagen und Videos angefertigt, Technotanzen gelernt und dazu Drogen genommen.

Über zufällige Partybekanntschaften ergab sich 1997, im ziemlich depressiven letzten Jahr ihres schließlich abgebrochenen Studiums, ein Job bei einer Fernsehproduktion: Eine kleine Hamburger Filmfirma stellte damals eine Dokumentation für eine Kultur-Magazinsendung über die große Sensation her, dass gleich vier Konzeptkünstlerinnen für den renommierten britischen Turner-Preis nominiert waren.

Eine davon, Gillian Wearing, hat ihn tatsächlich gekriegt. Petra war im Rahmen der Sendung für das Interview mit dieser Frau verantwortlich. Was sie daraus gemacht hat, kam bei allen sehr gut an. Seitdem arbeitet sie praktisch ununterbrochen für das gehobene Gescheitfernsehen. Manchmal denkt Petra, sie müsste sich dafür vielleicht schämen, weil 1.) Fernsehen an sich naturgemäß blöd ist und 2.) Gescheitfernsehen noch schlimmer ist als blöd, nämlich blöd und langweilig, aber auch noch eingebildet.

Alexander Kluge, Arte, »Kulturzeit« auf 3Sat, Buchreportagen – wie jeder normale Mensch hat Petra einen schweren Widerwillen dagegen, sich so etwas anders als besoffen und mit ebenfalls besoffenen Freunden überhaupt anzuschauen.

Stefan klopft mit dem Kuli am Rand von Petras Clipboard herum, auf dass sie ihr Blatt mit den Fragen an den Interviewpartner des heutigen Nachmittags geklemmt hat.

Petra regt sich auf: »Hör’ auf, da so rumzuklopfen.«

»Ist der Typ wirklich wichtig, den wir da gleich …«, will der zweite Beleuchter wissen.

Der Fahrer klopft an die Innenscheibe – soll heißen, man ist gleich da.

Petra seufzt: »Er gilt als baden-württembergisches Original, ist für den Bundesfilmpreis nominiert. Wenn das wichtig ist, ist er wichtig.«

Der Wagen fährt auf knirschendem Kies in die Einfahrt zum Kurhotel, wo das Interview stattfinden soll. Petra drückt ihre kurz gerauchte Zigarette auf dem Clipboard aus.

Eigentlich, denkt sie, bin ich doch froh, dass ich die Kunstwelt nicht aushalte.

Künstlerleben sind fast immer schlimme Schicksale. Picasso zum Beispiel: malen, malen, malen, wofür? Am Ende überfahren ihn undankbare Touristen mit dem Feuerwehrauto, und wie er schon zerbröselt auf der Straße liegt, füllen sie ihn in Flaschen, verbuddeln ihn am Strand, nie wieder hat man danach was von ihm gehört.

Das bringt es nicht.

Der Wagen hält, die Crew steigt aus.

Der designierte Interviewpartner sitzt bereits an einem Tischlein in der Sonne.

Ein Fläschchen Fachinger Mineralwasser steht vor ihm, er nippt am Glas. Der kleine Mann sieht aus, als wäre er Anfang fünfzig, hat füllige Tränensäckchen unter den Augen, radikal links gescheitelte, aber dünne und spärliche braune Haare, scheinbar mit Spucke an den Kopf geklebt, und trägt einen hellbraunen Anzug.

Petra schüttelt ihm die schlaffe, lustlos hingestreckte rechte Hand.

Er steht nicht auf, sie setzt sich deshalb einfach vor ihn hin.

Der Kellner kommt, Petra bestellt was.

Die Beleuchter bauen ihre Schirme auf, Stefan fummelt an der Kamera herum.

Schließlich ist alles bereit. Petra liest ihre erste Frage vom Zettel auf dem Plastikbrett ab:

»Herr Rümmele, Ihre Filme sind außerhalb ihrer Heimat praktisch unbekannt. Können Sie mal was dazu sagen?«

Der kleine Mann seufzt, die Schultern heben und senken sich. Er blinzelt. Petra fixiert ihn eindringlich, sie weiß, dass die von der Kultur das brauchen: ungeteiltes Interesse. Stefan probiert einen anderen Winkel. Der kleine Mann sagt, mit starkem badischem Akzent: »Ja, des dut mer leid, des dut mer ja so schrecklich leid. Weil die Filme, die sin so schön.«

Er ächzt. Er kratzt sich hinterm Ohr, ganz langsam. Dann nimmt er zögerlich den Faden seines komplizierten Arguments wieder auf: »So schöne Filme sin des.«

Petra sagt: »Aha.«

Der kleine Mann holt tief Luft, zwingt sich dazu, in mehr oder weniger korrektem Hochdeutsch fortzufahren: »So schöne Landschaftsaufnahmen, und die schönen, schönen Dialoge – wenn da der eine sagt: ›Ha wo han isch jetzt mei Eimer, isch brauch doch Wasser!‹ Und dann sagt der andere: ›Ha du armer Kerl!‹ Da wird des menschliche Mitleid in ein Licht gerückt, des isch …« Rümmele denkt nach. Ihm fällt nichts ein, also sagt er: »Unglaublich! Des isch unglaublich.« Petra muss zustimmen, damit es weitergeht. Sie löst das Problem sparsam: »Ja. Aber mal was anderes: Man hat geschrieben, Sie seien eigentlich der ideale Regisseur, um die Bücher von Martin Walser zu verfilmen. Ähnliche Sensibilitäten, analoger Weltzugang. Reizt Sie so etwas? Möchten Sie Literatur verfilmen?«

Rümmele schließt die Augen, horcht in sich hinein.

Dann wispert er zart: »Martin Walser.«

Petra ermutigt ihn, bekräftigt, was er zu denken scheint: »Martin Walser.«

Rümmele strahlt sie an: »Der Walser Maddin!«

Petra wird schwindlig: »Ja, der, genau! Der alte Marty!«

Rümmele schreit: »Walser!«

Petra keucht. Rümmele beißt sich auf die Unterlippe.

Eine Weile atmen beide schwer. Stefan geht einmal um Rümmeles Hinterkopf herum, filmt ihn jetzt von links. Petra sammelt sich, setzt neu an: »Aber zurück zu Ihrer Abgeschiedenheit, zu Ihrem spezifischen Verständnis von filmischer Avantgarde. Erlauben Sie mir eine provokante Frage: Möchten Sie denn überhaupt, dass man die Filme woanders sehen kann? Sie gelten ja als äußerst verschlossen, als Eigenbrötler. Ihre Filme laufen eigentlich seit Jahren nur mehr im ›Guckinger Häusle‹ in ihrer Heimatstadt Bretz. Erklären Sie doch mal ein bisschen was zu ihrer Heimat, und warum das alles so wichtig ist für Sie.«

Rümmele dreht die Mineralwasserflasche am Hals, zwischen Daumen und Zeigefinger. Spielt ein wenig damit, lässt Lichtreflexe zu, freut sich darüber. Es brummt aus ihm, ziept auch ganz leise. Er schnauft. Petra hat Angst – was soll sie tun, wenn Rümmele wieder mit dem Reizthema Martin Walser anfängt? Der Künstler zieht aber die buschigen Brauen kraus und grollt: »Ja, des schtimmt ja alles nit. Die Stadt, die gibt’s ja gar nit, und die Filme sin ja alle mit der Keksschachtel gedreht, nit mit der Kamera. Und die Schauspieler, die sin ja so schlecht, ach Gott, die sin ganz schlecht. Des isch meischtens meine Oma nur und e alter Beseschtiel, dem ich noch eine Lumpenjack’ anhäng’, aber des rutscht immer nunter.« Petra starrt auf ihr Notizblatt. Vögel zwitschern. Rümmele räuspert sich, beugt sich vor: »Ach. Ach, es isch e Schand, eine Kulturschande, wirklich. Ich sollt’ gar nit hier sitzen, ich sollt’ mich irgendwo grämen. Des sollt’ ich.«

Eine Riesenpause findet äußerst langsam statt.

Stefan filmt. Der erste Beleuchter lehnt gegen einen Baum, verschmilzt allmählich mit ihm, Rinde bedeckt bereits sein Gesicht. Der zweite Beleuchter stinkt fürchterlich, er ist seit langem tot. Petra hustet und gewinnt, weil sie ein Profi ist, in allerletzter Sekunde wieder die Kontrolle über die Situation: »Ah, na. Uh, Herr Rümmele, dann darf ich doch annehmen … Dann dürfen wir Ihre Karriere praktisch als beendet betrachten?«

Rümmele nickt traurig: »Bevor dass sie überhaupt angefangen hat, isch sie schon im Schtumpf und Schtiel verdrückt.«

»Nun, nun«, Petra tätschelt ihm den Arm.

Der Zwerg weint: »Ein Elend! Ich leg’ mich irgendwo hin und flenn’! Weil des kann ich eh viel besser wie Film! Ich bin e Flenner, kei Filmer! Was will man denn im Film so jemand sehe? So e Flenner? Auch die Musik isch so schrecklich, die hab’ ich selbscht komboniert und die sing’ ich dann immer im Hintergrund. Wolle Sie’ s mal höre jetzt?«

Petra spricht schwache Abwehrzauberworte: »Nein. Jetzt … so … direkt eigentlich nicht.«

Rümmele ignoriert sie, jault seine Filmmusik: »Huhuuuuhuhhuuhuu huhuhuuuu, huuu, huu!«

Petra zuckt und flüstert: »Wenn … ich es nicht besser wüsste, würde ich meinen, das ist keine … Filmmusik, sondern nur … schreckliches Geheul.«

Der Künstler lächelt nachsichtig: »Ja, des könnt’ ma meine, nit wahr? Da liegt das Missvertschtändnis nahe! Ach, ach.«

Petra versucht, die Welt zu retten: »Ich danke Ihnen für diese eindringliche Selbstdarstellung, Herr Walser. Herr Rümmele. Kann man festhalten. Ich hoffe, wir haben Ihnen das dadurch gründlich ausgetrieben, diese Vorstellung, dass das da sein müsste mit Ihnen.«

Rümmele stimmt eifrig zu: »Nei, des muss überhaupt nit sein! Es wär’ besser für alle, wenn’s wieder wegkäm’! Muss nit!« Petra steht auf, nimmt ihren Klappstuhl bei der Lehne.

Sie gibt Stefan ein Handzeichen, der Kameramann geht zwei Schritte zurück.

Rümmele kichert. Petra holt aus und schlägt ihn mit dem Stuhl in Stücke.

Der Kellner kommt herangehopst; kehrt das Bruchholz zusammen.

Petra geht rauchen, ihr Kopf ist klar.