»Wir müssen den Konflikt wagen«

Michael Prütz

Die Proteste gegen die Sozialpolitik der Bundesregierung regen sich langsam. Am 1. November soll in Berlin eine erste Demonstration stattfinden, die von einem breiten Bündnis getragen wird. Mit dabei ist auch das Berliner Sozialforum, an dem unter anderem linksradikale Gruppen wie FelS, trotzkistische Organisationen wie Linksruck und Arbeitermacht sowie gewerkschaftliche und kirchliche Gruppierungen beteiligt sind. Der ehemalige Berliner PDS-Kandidat für Kreuzberg, Michael Prütz, ist Sprecher des Berliner Sozialforums. Mit ihm sprach Wibke Bergemann.

Das Berliner Sozialforum mobilisiert zwar für die Demonstration, ist aber nicht auf dem Aufruf zu finden.

Wir hatten zunächst Schwierigkeiten mit dem Aufruf, der sehr auf gewerkschaftliche Probleme ausgerichtet ist. Wir diskutieren noch, ob wir einen eigenen Aufruf formulieren sollen. Zum Beispiel fehlt eine feministische Komponente, also die Frage, wie sich die Hartz-Gesetze auf Frauen, auf allein erziehende Mütter, auswirken. Ein Bezug auf die globalisierungskritische Bewegung ist überhaupt nicht vorhanden.

Sind noch weitere Aktionen geplant?

Ich gehe davon aus, dass Mitte November auf dem Europäischen Sozialforum (ESF) in Paris ein europaweiter Aktionstag für den 20. März nächsten Jahres beschlossen wird. Die Vernetzung ist für eine europaweite Mobilisierung nützlich. Der internationale Aktionstag am 15. Februar dieses Jahres, die größte Mobiliserung, die es je gegeben hat, war auf Initiative des Europäischen Sozialforums in Florenz zustande gekommen. Die Fragen, die in Italien, Frankreich oder Deutschland gestellt werden, sind ja nicht so unterschiedlich, also muss man auch die Antworten gemeinsam diskutieren, um gemeinsame Aktionen zu beschließen.

Abgesehen von der Teilnahme am ESF und dem Aktionstag ist also bislang nichts geplant?

Nein, alle warten jetzt gespannt darauf, was am 1. November geschehen wird. Es gibt einige sehr skeptische Einschätzungen, schließlich handelt es sich um eine reine Basismobilisierung. Die Gewerkschaftsvorstände boykottieren bis auf einzelne Ausnahmen de facto die Teilnahme. Es handelt sich also um den ersten Versuch, eine eigenständige Mobilisierung zu den sozialen Themen ohne die Unterstützung der Gewerkschaften zu organisieren. Wenn mehr als 20 000 Teilnehmer kommen, wäre das ein erster Erfolg.

Warum ist es so schwer, für ein Thema zu mobilisieren, das doch alle betrifft?

Es gibt drei Gründe. Erstens hat sich durch die neoliberale Offensive bei vielen in den Köpfen festgesetzt, dass die neuen Maßnahmen tatsächlich die Arbeitslosigkeit bekämpfen könnten.

Zweitens wissen die Gewerkschaften nicht mehr genau, was sie wollen. Sie sind groß geworden in einer Zeit der Sozialpartnerschaft, des sozialen Kompromisses. Doch dieser Kompromiss ist aufgekündigt worden, und die Gewerkschaften lavieren nun hin und her. Das bezieht sich natürlich nicht nur auf die Führung, sondern auch auf die einfachen Mitglieder. Viele glauben, dass man jetzt zwar durch schlechte Zeiten geht, über kurz oder lang aber wieder zu dem Klassenkompromiss zurückfinden kann.

Und drittens sind die Wucht dieses Angriffes und die Auswirkungen auf das Sozialniveau vielen noch gar nicht klar. Die verstehen noch nicht, dass sie sich einem Frontalangriff auf sämtliche Errungenschaften der Arbeiterbewegung, der sozialen Bewegungen ausgesetzt sehen.

Entspricht die offizielle Gewerkschaftspolitik den Bedürfnissen der Basis?

Das sind zwei Prozesse, die gleichzeitig vor sich gehen. Eine Minderheit in den Gewerkschaften ist zwar mittlerweile bereit, aktiv zu werden. Man muss aber deutlich sehen: Selbst wenn die Gewerkschaftsführung bereit wäre, zu einem Generalstreik in Deutschland aufzurufen, wäre dies zum jetzigen Zeitpunkt völlig unmöglich. Dafür ist die Kampfbereitschaft insgesamt viel zu niedrig.

Auf dem Kongress der IG Metall hat ihr Vorsitzender Jürgen Peters in seiner Grundsatzrede mit dem Abschied von der SPD gedroht.

Das ist heiße Luft. Peters hält eine radikale Rede, will aber den Bruch mit der Sozialdemokratie auf jeden Fall vermeiden.

Und wie werden die Gewerkschaften langfristig auf diese Entwicklung reagieren?

Sie werden sich ausdifferenzieren. Manche Gewerkschaftsvorstände werden vollständig auf die Seite des Neoliberalismus überlaufen, so wie es der Vorsitzende der IG Bergbau, Hubertus Schmoldt, jetzt schon vormacht. Und andere Gewerkschaften werden sich eher nach links entwickeln und den Kampf tatsächlich aufnehmen wollen. Das ist der gleiche Prozess, den man heute in Frankreich, England und Italien beobachten kann.

Könnte sich eine ähnliche Protestbewegung wie in Italien oder Frankreich eines Tages auch hier entwickeln?

Davon bin ich fest überzeugt. Ich glaube, dass in den nächsten zwei, drei Jahren interessante politische Prozesse stattfinden werden. Denn diese Offensive der rot-grünen Regierung ist noch nicht das Ende der Fahnenstange. Da werden noch ganz andere Maßnahmen kommen. Wir müssen uns darauf vorbereiten und den Konflikt wagen.

Am Berliner Sozialforum sind sehr unterschiedliche Gruppen beteiligt. Wie lassen sich solch heterogene Positionen zusammenbringen?

Es kann heute keinen erfolgreichen politischen Kampf geben, der nur in einem Teilbereich geführt wird. Es kommt darauf an, eine Vernetzung zwischen den vielen sozialen und politischen Gruppierungen und Initiativen herzustellen. Und das kann nur gelingen, wenn man Kompromisse eingeht. Darauf müssen sich alle einstellen. Das funktioniert nur, wenn sich ein Zentrum bildet, dass alle Flügel in Schach hält. Jetzt denken Sie vermutlich gleich wieder, der Prütz ist autoritär. Aber so ist es tatsächlich: Wir repräsentieren ein breites Spektrum, wir wollen die alten Rituale und Abgrenzungen nicht mehr.

Wo sind die Grenzen Ihrer Kompromissbereitschaft?

Es gibt bestimmte Kampfformen, die gehen nicht. Das Sozialforum kann nicht propagieren, dass man jetzt die Arbeitsämter anzünden soll. Das geht nicht, egal, ob einzelne Leute das gut finden oder nicht. Wir müssen bei allen Aktionen, auch des zivilen Ungehorsams, ein breites Spektrum berücksichtigen.

Gibt es auch inhaltliche Differenzen?

Wir diskutieren derzeit die These der Gruppe Anders Arbeiten über ein Recht auf Faulheit und Existenzgeld. Das kann man nicht einfach per Beschluss übernehmen. Aber der Wille, gemeinsam gegen neoliberale Politik vorzugehen, ist vorhanden. Die Interessen breiterer Schichten müssen berücksichtigt werden. Wer Szenepolitik machen will, kann das tun, aber nicht im Sozialforum.

Sie sind aus der PDS ausgetreten. Wie arbeiten Sie mit den PDS-Mitgliedern im Berliner Sozialforum zusammen?

Die treten sehr bescheiden auf und versuchen erst gar nicht, eine dominante Rolle einzunehmen. Sie werden geduldet, das Sozialforum schließt keinen aus. Aber sie müssen sich natürlich fragen lassen, warum sie im Sozialforum mitarbeiten und gleichzeitig eine neoliberale Politik betreiben. Das ist eine Schizophrenie, die sie nicht lange durchhalten können.

Sie haben viele Jahre mit dem heutigen PDS-Wirtschaftssenator Harald Wolf und mit Udo Wolf in Kreuzberg zusammen gewohnt.

Wir sind auch heute noch auf der persönlichen Ebene befreundet. Aber wir haben uns politisch nichts zu sagen. Udo glaubt ja, dass er ein guter Marxist ist. Beide gehen davon aus, dass seit der Wende für eine lange Zeit keine andere Politik möglich ist. Aber der Kompromiss, den sie eingehen, ist völlig einseitig. Sie gehen der Sozialdemokratie entgegen, ohne irgendetwas dafür zu bekommen.