Dantes Rückkehr

Peter Weiss, das »Inferno« und die »Ermittlung«. Von Berthold Brunner und Claudia Heinrich

1966, zwei Jahre nach seiner Abfassung des Stücks »Inferno«, nahm Peter Weiss im April am Treffen der Gruppe 47 in Princeton/USA teil. Angesichts des Vietnamkriegs mit seit 1965 intensivierten Bombardements und einer sich entwickelnden Antikriegsbewegung in den USA lautete die informelle Regel des harten Kerns der Gruppe: Keine Einmischung in Angelegenheiten des Gastlandes.

Es ging in Princeton, wie es Fritz J. Raddatz formulierte, darum, einen Status nationaler »Repräsentanz« zu erlangen. Weiss, seit 1962 zu den Treffen eingeladen, widersetzte sich zusammen mit Reinhard Lettau und Hans-Magnus Enzensberger der ungeschriebenen Vorgabe, besuchte eine am Rande stattfindende Vietnamveranstaltung an der Princetoner Universität und hielt dort die Rede »I come out of my hiding-place«. Die Weigerung stillzuhalten führte zu einer Krise des Schriftstellers mit der Gruppe, zu der seine veröffentlichten Notizbücher zeitnah folgenden Eintrag enthalten: »Der Zusammenstoß im Hotelzimmer. Ich hätte mich in amerikanische Angelegenheiten nicht einzumischen. Missbrauche die Gastfreundschaft. Und überhaupt: was ich denn für ein Recht hätte, auf diese Weise politisch Stellung zu nehmen. Hätte auch über deutsche Fragen schon viel zu viel gesagt. Wo ich denn während des Kriegs gewesen wäre –« (Notizbücher 1960–1970, S. 491f)

Im letzten Satz der Äußerung – wie Weiss sie wiedergibt – wird dem exilierten Autor in doppelter Weise ein Nichtort zugewiesen. Beabsichtigt ist seine Ausgrenzung aus der Gruppe, die über Deutschland sprechen dürfe; nur in Deutschland Gebliebenen wird dies zugebilligt. Dem liegt aber ein furchtbarer Zynismus zu Grunde. Wäre Weiss’ Familie nicht geflüchtet, wäre der spätere Autor ja als »Halbjude« verfolgt worden. Indem ihm die Flucht zum Vorwurf gemacht wird, ist, wohl unbewusst, die Vorstellung aufgerufen, der ihm zustehende Ort, das Vernichtungslager, wäre einzunehmen gewesen.

Eine weitere Notiz zum Vorfall im Hotelzimmer, die Weiss im Juli 1978 niederschrieb, bestätigt den Ausschlussduktus der gegen ihn geführten Rede – deutlicher ist hier aber das Selbstverständnis der Kontrahenten abgebildet: »Auch Kritik an Deutschland, sagte ich, hielte ich nicht zurück, weil ich in Schweden ansässig sei. Und dann kam es: du kannst dich über Deutschland nie äußern, du bist draußen gewesen, in der Sicherheit der Emigration, wir waren drinnen, wir haben am Krieg teilgenommen –« (Notizbücher 1971–1980, S. 734)

Hier ist ausformuliert, was über die Geschichte der deutschen »Nachkriegsliteratur« bislang meist verschwiegen worden ist: dass daheim Gebliebene – Wehrmachtssoldaten und »inneres Exil« – beanspruchten, über Deutschland exklusiv zu sprechen. Indem sie als Kern der Repräsentanz deutscher Literatur im Ausland gelten wollten, konnte einer originär jüdischen Perspektive in der deutschen Nachkriegsliteratur kein Platz zukommen. Die Literaturwissenschaft in Deutschland reproduzierte über Jahrzehnte solche Prämissen ihres Untersuchungsobjekts – Ansätze, die deutsche Vernichtungsverbrechen ins Zentrum auch theoretischer Überlegungen stellten, sind zunächst nur im Ausland entstanden.

Bis heute wird über »Die andere Erinnerung«, die »Jüdische Autoren in der westdeutschen Nachkriegsliteratur«, so Titel und Untertitel eines Buches von Stephan Braese (2001), hätten einbringen können, und die Mechanismen ihrer Ausgrenzung nur in Randbereichen der Literaturwissenschaft nachgedacht. Die Rezeption von Braeses fundiertem Werk und von Klaus Brieglebs Streitschrift »Wie antisemitisch war die Gruppe 47?« aus diesem Jahr ist ein Beispiel für die Missachtung und die Abwehr vorgelegter Erkenntnisse.

Solcher Abwehr gilt das Verhältnis des Autors Peter Weiss zur Gruppe 47 als unproblematisch, ja als Erfolgsstory; der Vorfall in Princeton wird als unschön, aber unmaßgeblich abgetan. Dass Weiss, im schwedischen Exil vom Veröffentlichen in Deutschland lange abgeschnitten, innerhalb weniger Jahre zum berühmten Dramaturgen werden konnte, das habe, wird gesagt, schließlich dieser Kontakt ermöglicht; der Weg führte vom Vortrommeln bei der Gruppe zur gefeierten »Marat/Sade«-Premiere im Sommer 1964. Auch der freundschaftliche Umgang Hans Werner Richters mit Weiss (die Familien verbrachten einen gemeinsamen Urlaub) gilt als Beleg für ein unbefangenes Verhältnis zu den deutschen Förderern. Die Veröffentlichung des Stückes »Inferno« macht nun aber offenbar, dass die Reisen nach Deutschland, die der Autor auf dem Weg zum Ruhm absolvierte, bei ihm tiefe Spuren hinterlassen haben müssen.

Weiss, der eine neue »Divina Commedia« zunächst noch als ein Künstlerdrama entwerfen wollte (Dante begegnet Giotto), setzte im Laufe des Jahres 1964 immer wieder zu neuen Entwürfen an, die die Rückkehr Dantes in die Stadt der Verfolger ins Zentrum rückten; der anfängliche universalistische Anspruch, darüber die Verhältnisse etwa auch in Südafrika zu thematisieren, verschwand. Das schließlich durchgeschriebene Stück, wie es nun bei Suhrkamp erscheint, lässt erkennen, wie klar sich Weiss schon 1964 jener Mechanismen bewusst gewesen ist, deren Opfer er selbst 1966 bei der Gruppe 47 wurde. Das Personal des Inferno schleudert im Drama Dante entgegen:

»Wenn dieser meint er könnte jetzt ein Urteil sprechen

über die Zeit in der er selbst nichts abbekam

und sich mit reiner Miene auf die Seite derer stellen

die damals untergingen in gewisser Zahl

so kann er damit nichts als seine Lügenhaftigkeit erhellen«

Wie später in Princeton verbindet sich der Vorwurf an den Flüchtling, »nichts abbekommen« zu haben, mit der Aberkennung der Diskursfähigkeit.

Erinnerung zerstört

Die albtraumhafte Szenerie des Stückes »Inferno« stellt sich über eine Jahrmarktsituation her. »Dante« gerät dort in die Fänge einer Truppe von Schauspielern, die dann die verschiedenen Rollen der Inferno-Bewohner einnehmen. Wie im »Marat/Sade« ist also ein »Spiel im Spiel« inszeniert, doch erinnert die Atmosphäre auch an frühere Weiss-Stücke wie »Nacht mit Gästen«.

Dabei bleiben in Weiss’ »Commedia« die im Inferno versammelten Täter auf ewig unbestraft. Gezeigt wird eine Welt geschichtlicher Beliebigkeit, die widerspruchsfrei zukunftsorientiert ist. Aus den historisch Besiegten wurden die Sieger über die Geschichte, per Umdeutung oder Negation kann durch sie alles Gegenwärtige oder Historische verhängnisfrei verwertet werden; Rede Charons im 4. Gesang:

»Hier brauchst du nicht nach Gleichnissen zu suchen

Was sich dir zeigt

das ist sich selbst genug

Sieh wie hier alles lebt und sich bewegt

und wie hier nichts verharrt

im Alten und Verbrauchten

Bei uns ist jeder Augenblick

Erneuerung«

1959 analysierte Theodor W. Adorno in seinem berühmt gewordenen Aufsatz »Was bedeutet Aufarbeitung der Vergangenheit?« Tendenzen zur Verdrängung und Subjektivierung der Wirklichkeit von Schuld in Deutschland. Er kritisierte, die virulente »Rede vom Schuldkomplex« lege nahe, dass »das Gefühl der Schuld krankhaft sei« und fragte kritisch weiter: »Oder sollte gar Schuld selber überhaupt nur ein Komplex, sollte es krankhaft sein, mit Vergangenem sich zu belasten, während der gesunde und realistische Mensch in der Gegenwart und ihren praktischen Zwecken aufgeht? Das zöge die Moral aus jenem ›Und ist so gut, als wär’ es nicht gewesen‹, das von Goethe stammt, aber, an entscheidender Stelle des Faust, vom Teufel gesprochen wird, um dessen innerstes Prinzip zu enthüllen, die Zerstörung von Erinnerung.«

Der Text wurde bei Suhrkamp im Jahr 1963 veröffentlicht. Nun erfahren wir: 1964 hat Peter Weiss im Stück ausgeschrieben, was sich bei Adorno durch Konjunktiv angedeutet findet: dass das infernalische deutsche Bewusstsein vom kalkulierten Verdrängen zur offensiv umgesetzten Erinnerungszerstörung voranschreiten kann.

Die Gewalt, die der postnationalsozialistischen Gesellschaft eingeschrieben ist, wird dabei stets mit thematisiert. Wenn der Chor der Inferno-Gesellschaft im 10. Gesang die eigene »Kraft« preist, die »nur ein Ziel« kenne, »Schönheit zu erlangen«, so schlagen, nach Regieanweisung, »alle Stimmen um« und harte, erbarmungslose Repression gegen die Feinde wird verkündet – gefolgt vom, so wieder die Regieanweisung, »…Takt gemeinsame(n) Gelächter(s)«.

Solches Gelächter erinnert nicht zufällig an den Auschwitz-Prozess, den Weiss gleichzeitig zur Abfassung von »Inferno« besuchte bzw. verfolgte. Die Heiterkeit der Angeklagten in der »Ermittlung« bei Zeugenaussagen und die Konstellation Inferno–Dante sollten einander entsprechen. Und so zeigt sich die große Nähe des »Inferno« zum als »Paradiso« entworfenen Auschwitz-Stück immer wieder in Passagen, die eine scharfe Kritik an der Gesellschaft des Gerichtsorts, der BRD der sechziger Jahre, implizieren; auf die Bitte Dantes im 27. Gesang, sich zu erklären, »dass ich euch/ und mich verstehe«, antworten Inferno-Bewohner z.B.:

»Ich liebe alte Möbel

wertvolle Teppiche

festlich gedeckte Tafeln

und gern bin ich dabei

wenn sie einem die Schlinge legen

um den Hals

dann häng ich mich an seine Beine

und hör das Knacken in seinem Genick

Ach wenn andere vergehen müssen

erhöht sich die Freude

am eigenen Dasein«

Kontinuitäten – wie eine hier gezeigte Gewaltbereitschaft, die sich im antisemitischen Vernichtungsterror der NS-Zeit verwirklicht hatte – bleiben, dies ist Thema des Stücks, gefährlich für die potenziellen Opfer. Besonders die trotz der Zuschreibung »Jude« überlebt haben, sind gefährdet, konterkarieren sie doch, so sie auf einer eigenen Geschichte und Identität beharren, die ins Werk gesetzte Zerstörung von Erinnerung. Die Subjektivierung von Schuld im Schuldkomplex der Täter, wie Adorno sie vorfand, genügt nicht mehr; der Schutz der »gesunden« und »realistischen« Tätergesellschaft vor dem »krankhaften«, anderen Erinnern erfordert, deren Träger sich vollkommen anzugleichen oder erneut auszusondern. Dantes Rückkehr in die Vaterstadt ist die Geschichte eines solchen bewehrten Assimilationsversuches.

Dante und das Inferno

Schon als Dante mit Charakteristiken des historischen Dichters, die zugleich aber auch den »ewigen Juden« kennzeichnen, auf die Bühne gestellt wird (»…steht einer/ klein und schmächtig kreidebleich/ in einem allzu weiten schlotternden Gewand/ mit einer Kappe daran Ohrenklappen/ und drüber einen Lorbeerkranz/ stützt sich ab auf seinen Stab«), setzt die Bedrängung durch Chef, Luchs und Wölfin ein (»Figuren machen sich an ihn heran/ … sie setzen ihm hart zu er will entkommen/ doch ein Arm ein Bein schiebt sich ihm immer in den Weg«).

Dass er wie ein Toter oder Untoter gesehen wird (Wölfin: »Er stinkt Herr Chef er stinkt wie Jauche/ Er hat die Hosen voll er ist schon halb verwest/ Seht doch die Fratze an/ wie eine Leiche«), zeigt ihn als Repräsentanten jener »Juden«, wie sie im Konzentrationslager als Personifikationen des Unnatürlich-Abstrakten vernichtet werden sollten. So ist folgerichtig, dass der Figur in der Folge vom Inferno-Personal antisemitische Zuschreibungen zugeordnet werden wie: Unfähigkeit zu wirklichem Gefühl, Gerissenheit, Gewinnstreben. Gerade diese Eigenschaften, so das Kalkül des Inferno, könnten genutzt werden, ihre Assimilation zu erzwingen.

Dante ist auf der Suche nach Bea, seiner früheren Geliebten, die der Vernichtung nicht entkam. Sie ist Symbol seines Erinnerns. Dass er sie zurückließ, ist Kern seiner Schuldvorwürfe angesichts des eigenen Überlebens. Da das Schreiben über die Geliebte das Zentrum seiner Exilexistenz bildet, ist mit den Selbstvorwürfen auch die Identität des Dichters in Frage gestellt. Für den Exilanten Dante erweist sich, dass ihm keine eigene stabile Existenz, die von der Verfolgungserfahrung sich hätte frei machen können, möglich war. Dies ist Grund für seine Rückkehr – bewirkt aber auch, dass mit ihr, von einem Nullpunkt der Amnesie, die inneren Entwicklungsprozesse der Figur quasi neu beginnen. Auch mit diesem Zustand korreliert das böse Spiel der Jahrmarktsfiguren des Inferno, das auch als eine Art Traumgeschehen gesehen werden kann. Dante zu Beginn des 6. Gesangs:

»…Ich weiss nur dass ich aufwachte in einem Zimmer

Ich lag auf einem Bett (…)

Ich wusste nicht in welcher Stadt ich war

auch meinen Namen hatte ich vergessen

So lag ich lange

Später dachte ich

so muss das Sterben sein«

Solcher Amnesie liegt zu Grunde, dass Dante erst durch die Verfolgung zum Juden wurde. Wie in Weiss’ realem Leben wurde diese Zuschreibung durch keine positiven, bewusst erlebten Identitätsanteile gedeckt. So führt gerade die radikal irrationale Opferwahl des Antisemitismus für Dante/ Weiss zur beunruhigenden Frage, ob auch er selbst bei anderen Voraussetzungen zum Täter hätte werden können.

Beides nun, die Schuldgefühle und die Identitätsprobleme des Überlebenden, sucht sich die Inferno-Gesellschaft zynisch zunutze zu machen. Sie macht Dante das Angebot, er solle sich zum potenziellen Täter erklären und sich ihrer Erinnerungsverweigerung anschließen; Chor, 18. Gesang:

»Weil du in deinem Wesen hinterhältig bist

sind wir bereit uns mit dir zu verbünden

Weil du verschlagen bist wie wir

Bedienen wir uns deiner gern«

Erst die Annahme des Angebots durch Dante würde das Inferno (im Verschwinden jeder anderen Erinnerung) endgültig legitimieren. Die Versuche, Dante zu integrieren, finden ihren Ausdruck im Bemühen, ihn zu symbolischen Gesten des Einvernehmens, Eingebundenseins zu bringen: zur Annahme eines Ordens (12. Gesang), zum Eintrag in das goldene Buch der Stadt (19. Gesang); schließlich folgt die Auseinandersetzung um Ausgrenzung, Vertreibung und Flucht Dantes.

Das Argument des Schriftstellers Vergil, eines Vertreters des Inferno-Personals, Dante zur Ordensannahme zu bewegen, lautet, auch er, Dante, sei ursprünglich mit der Verfolgung der Juden einverstanden gewesen – so, als auf dem »Platz unserer Zusammengehörigkeit« alte Juden öffentlich gequält und gedemütigt wurden; 12. Gesang:

»Wir lachten als ihr Mund gedrückt wurde

in den Schleim

den andre ihnen dazu gespuckt hatten«

Diese Vorwürfe Vergils treffen ein Schuldbewusstsein Dantes, dennoch entwickelt er Widerspruch:

»Es war kein Lachen

Ich zitterte und weinte (….)

Ja es mag sein

dass ihr das Grimassieren meines Gesichts

für Lachen hieltet

mag sein dass ich was aus der Kehle presste

das wie Lachen klang

doch weiss ich

dass von hier aus meine Flucht begann«

Insgesamt bleibt seine Haltung unentschieden: Er nimmt den Orden nicht an, wehrt sich aber nicht dagegen, dass Vergil den Stoff seiner Kleidung strafft und so das Anheften ermöglicht.

Nach dem Dementi der gemeinsamen Täterschaft durch Dante gehen die Vorwürfe der Inferno-Ankläger weiter zurück, in die Kindheit. Schon damals sei er »einer von ihnen« gewesen, habe an ihren Gewaltstrukturen teilgehabt. Auch hier ist Dante hin und her gerissen zwischen eigenen Gewissensqualen, dem Ringen um Erinnerung und der Abgrenzung von der Tätergesellschaft, die er schließlich aber deutlich formuliert (19. Gesang):

»Eben noch spürte ich diese Zeit

und ich war wieder nah daran

um mich zu hauen

und zu zertreten

ich war bereit

die Faust dem Schwachen ins Gesicht zu schlagen

mich auf den Unterworfenen zu stellen

und doch gehörte ich nie

zu euch«

Bei der folgenden Verleihung der Ehrenbürgerschaft bleibt Dantes Handeln wieder einmal unentschieden: Er unterschreibt nicht, lässt aber zu, dass Vergil ihm die Hand führt.

In der Folge setzt sich die Figur jedoch mit ihrer Vertreibung wie auch dem Funktionieren der Inferno-Gesellschaft so weit auseinander, dass eine eigene Erinnerungsposition sich ausbildet; sogar eine Nähe zu jüdischer Sprachphilosophie blitzt auf (28. Gesang):

»Dies weiss ich jetzt

dass es nur eine Strafe gibt

und diese Strafe heißt Vergessen

und davon heisst der letzte Grad

Verlust des eignen Namens

Ich weiss

dass ich bald jeden Schritt den ich gegangen bin

erkennen werde

und sehen werde

wohin jeder weitre Schritt mich führt«

In einer Art Abschlussrede kündigt Dante im 30. Gesang den endgültigen Bruch an – die eigene Unentschiedenheit charakterisiert er jetzt als vergangenes Phänomen (zu beachten ist die Zeitform):

»Lange trug ich daran

dass es mich nicht erlangte

was mich doch treffen sollte

und was so viele andre traf (…)

Das war die schwerste Aufgabe

aus diesem Aufschub

etwas Bleibendes zu machen

und ich bemühte mich noch darum

als ich hierher kam«

Dante sucht die Distanzierung vom Inferno zu vollenden: »Ich habe nichts mit euch zu tun. (…) Es gibt noch eine andre Welt.« Doch das Inferno lässt diesen Schritt nicht zu, es erweist sich als unverändert repressiv. Dante wird unterbrochen, und das Vernichtungsurteil gegen ihn erneuert. Montelfeltro: »Das Urteil das über dich ausgesprochen wurde/ hat sich nicht verändert.« Dante hält zunächst an seinen Erkenntnissen fest (»Ich erkenne eure Gesetze nicht an. (…) Gleich bin ich wach«), reagiert auf die blanke Todesdrohung (Montelfeltro: »Vollstreckt das Urteil«) aber doch mit erneuter Unterwerfung. Er fleht Vergil an, ihn zu retten, doch der Literat des Inferno wendet sich ab. Zum Ende des 31. Gesangs muss der Zuschauer des Stücks denken, die Inferno-Täter, die sich über Dante werfen, hätten ihn dabei getötet; doch zeigt Gesang 32, dass ihm, begleitet von spöttischer Rede, das Leben geschenkt wird:

»…sehen wir in jenem Dichter

mit dem Namen Dante Alighieri

nur einen von denen

die in ihrer Harmlosigkeit

nichts anderes zu bieten haben

als ihre kleinen Gesänge und Bilder«

Der hier demonstrierten Toleranz gegenüber dem jüdischen Außenseiter ist die ihr eingeschriebene Gewalt anzusehen – die zur Schau gestellte Figur ist gezeichnet von der vorausgegangenen Überwältigung. Die Eingrenzung, ja Verhinderung des abweichenden Erinnerns gelingt dem Inferno-Personal auch so. Dante wird auf das Podium gestellt wie zu Beginn des Stücks: verstummt und stillgestellt.

»Paradiso« und »Inferno«

Mit diesem auf das Eingangsbild zurückführenden, vorläufigen Abschluss finden sich alle Handlungsstränge des Stücks in einem resignativen Ende aufgehoben. Die Individualisierungsprozesse Dantes, sein Ringen um Erinnerung wurden gewaltsam unterbrochen. Dabei kann diesen Strängen des Stücks mit einigem Recht eine autobiografische Dimension zugeschrieben werden, spiegeln sich doch in der Figur Dantes zahlreiche Ereignisse und Reflexionen, die nachweislich Zeugnissen Peter Weiss’ über sein eigenes Leben entsprechen. Plausibel ist auch zu vermuten, dass die am Stück vollzogene Durcharbeitung der eigenen Vergangenheit Peter Weiss die Abfassung späterer Stücke – und auch schon der »Ermittlung« – erst ermöglicht habe.

Diese These vertritt ein dem Text von Suhrkamp beigegebenes Nachwort des Literaturwissenschaftlers Christoph Weiß, welches damit aber leider nicht Halt macht. Weiß behandelt die Spur der Schuldvorwürfe Dantes nicht als ein Moment des Stücks, das in die oben beleuchtete Konstellation einginge. Vielmehr möchte er den Text allein als Ausformung des Dante-/Weissschen »Schuldkomplexes« interpretieren. Geschichte oder auch ihre Aktualisierung im Theater auf den Begriff des Schuldkomplexes, nunmehr bezogen auf die Überlebenden, zusammenzuziehen, ist gegenüber den von Adorno 1959 konstatierten Bewusstseinzuständen kein Fortschritt.

Einerseits ist zwar zu konstatieren, dass der Schuldkomplex zum Thema wird: Das Schulderleben der Überlebenden ist irrational, vergleicht man es mit der Empfindungslosigkeit ihrer Gegenüber. Auf der anderen Seite wird aber nun die Last, die das Erinnern bereitet, ganz auf die Opferseite verlagert – ja, das Vergangene selbst gilt nur noch als Teil von ihnen. Die Pathologisierung der Schuldfrage, die Adorno kritisierte, ermöglicht Deutschen in der neuen Konstellation, vollends den Gegenstandpunkt einer angemaßten »Normalität« einzunehmen, in der Auschwitz nicht mehr vorkommt.

Dabei macht es die Sache nicht besser, dass der Verlag und der Literaturwissenschaftler solche Ausführungen unter die Titelzeile »Eine ›autobiographische‹ Lektüre« stellen. Die unbegründeten Anführungszeichen um das Adjektiv sollen wohl relativieren, was aber auf der Hand liegt: Dass sie schon bei der Erstveröffentlichung des Weiss-Textes vorgeben wollen, wie jener in unserer neuen Zeit noch »sinnvoll« gelesen werden könnte. Weiss hält sich und den Deutschen den Spiegel vor. Und was sehen diese (nach vorgeschlagener Lesart) darin? Etwas spöttisch immer nur den sich vergeblich abmühenden, ein wenig hypochondrisch wirkenden Stückeschreiber.

Weiss hat das gewusst. Es steht alles schon im Stück, dem gerade daher Aktualität und Qualität zukommt:

»Denn er wäre nicht der Dante den wir kennen

wenn er nicht das was wir nicht tragen auf sich nähme«

(Gegenchor im 25. Gesang)

Christoph Weiß’ machte im Jahr 2000 mit einer Veröffentlichung zur »Ermittlung« von sich reden (Titel: »Auschwitz in der geteilten Welt«). Er untersuchte die letzten, von Peter Weiss vorgenommenen Textveränderungen und stellte die These auf, diese dokumentierten durchgängig eine Tendenz zur aktualisierenden Politisierung des Stücks: »Durch die gesamte Bearbeitung (…) wurde die ökonomistisch-personalistische Tendenz forciert.« Dass die letzten Änderungen eine »nochmals verschärfte Ausbeutungs- und Kontinuitätsthese vermittelt« hätten, vervollständigt aus seiner Sicht dabei nur, was der »Ermittlung« sowieso eingeschrieben sei. Es sei Peter Weiss darum gegangen, eine »universalistisch gewendete Aktualisierung von Auschwitz« zu Wege zu bringen. Weiss sei vor allem davon beseelt gewesen, nicht »noch einmal« zu spät zu kommen, im Schuldempfinden, damals, gegenüber dem Nationalsozialismus, politisch unbewusst gewesen zu sein.

Die Analyse des von Christoph Weiß im Archiv entdeckten »Inferno«-Stücks gewinnt dabei einen zentralen Stellenwert für seine Kritik an der »Ermittlung«. Die angeblich autobiografische Lektüre des »Inferno« führt ihn zur Sicht, Peter Weiss habe seinen an der Figur Dantes vollzogenen Selbstverständigungsprozess 1964 nicht vollendet, oder dieser sei misslungen. Dass der »Schuldkomplex« weiter virulent war, gilt ihm jedenfalls als Ursache für verkürzende, überzogene sowie irrationale Urteile im Auschwitz-Stück.

Besonders von Weiß hervorgehoben werden die letzten Zeilen des »Inferno«, die wie ein Epilog wirken. In ihnen kündigt der Chef an, die Atombombe zu zünden (»Ich habe für mein nächstes Spiel/ die Lösung schon im Kopf/ Dort kommen wir sehr schnell zum Ziel/ ich drück nur auf den Knopf«). Der Einbau dieses Moments in den Dramenverlauf belege, so sieht es der Literaturwissenschaftler, dass Peter Weiss von der drohenden Gefahr eines neuen (Atom-) Krieges überzeugt und dass sein künstlerisches Schaffen davon wesentlich bestimmt gewesen sei.

Das »Inferno« insgesamt von diesem Ende her lesen zu wollen, kann aber kaum überzeugen. Zu äußerlich bleibt die Schlussszene den Handlungssträngen des Stücks. Die im Atombombenmotiv angelegte universalistische Tendenz ist eher ein Relikt aus früheren »Inferno«-Entwürfen, als dass aus ihr die Logik des vorliegenden, durchgeschriebenen Textes erschlossen werden könnte. Es gibt zudem Anlass, anzunehmen, dass es in erster Linie die doch noch erfolgende Vernichtung speziell Dantes ist, die hier in Szene gesetzt werden soll: Dante vollendet nach der Chefrede, trotz Todesdrohung, die Trennung vom Inferno (»Ich sage mich/ für immer/ von euch los«). Als letzte Regieanweisungen folgen: »Grölendes Gelächter/ Dunkelheit/ und dann/ ein Dröhnen.« Das Gelächter kennzeichnet aber, im »Inferno« genau wie in der »Ermittlung«, das Bewusstsein der Täter, letztlich den Sieg über die Erinnerungsbemühungen der Opfer davonzutragen.

In beiden Stücken, die ja ursprünglich als Teile derselben »Divina Commedia«-Trilogie abgefasst wurden, ist ein Kräftespiel zwischen Tätern und überlebenden Opfern dargestellt. Der vielfach abgebildete Hohn, der Dante bzw. den Zeugen entgegengeschleudert wird, hat dabei sein Fundament in der Gewissheit der Täter, dass die wirkliche Dimension ihrer Tat sie nicht wird einholen können. In beiden Stücken wird die Identität der Opfer pausenlos in Frage gestellt, ihre zweite, symbolische Vernichtung betrieben. Diese Dimension an der »Ermittlung« stärker wahrzunehmen (anstatt sie allein als Darstellung des Vernichtungslagers Auschwitz zu lesen), sollte daher Konsequenz aus der Veröffentlichung des »Inferno«-Teils sein.

Die »Ermittlung« hat zum Inhalt, das Unangemessene des Auschwitz-Prozesses gegenüber dem dort Verhandelten, der Vernichtungspraxis, zu thematisieren. Die Frage nach persönlich-juristischer Schuld kann dem Geschehenen nicht gerecht werden. Doch auch für die Ebene des Stückes gilt: In den präsentierten Erklärungsmustern geht das Geschehene nicht auf, sie sind nicht gültiges Ergebnis der »Ermittlung«. Der antikapitalistische Diskurs, vor Gericht als irrelevant verworfen, stärkt in der Dramaturgie des Stückes zwar die Position der Zeugen – diese bleibt aber prekär. Ihre Identität ist hoch gefährdet. Wollte das Stück das Ungenügen, das den Auschwitz-Prozess prägte, abbilden, so greift das Problem, dass sich adäquate Vermittlungsformen versagen, auf das Stück über. Angesichts der zynischen Erinnerungsverweigerung der Täter trennt ein unüberwindlicher Graben die Opfergruppe vom Kontinuum der Tätergesellschaft.

Dabei hat die Unmöglichkeit der Überlieferung ihren eigentlichen, ihren letzten Grund in der Irrationalität der antisemitischen Zuschreibung. So richtig es ist, dass die »Ermittlung« vom Antisemitismus explizit nicht spricht, so falsch ist daher die Behauptung, dass Weiss’ Auschwitz-Stück von ihm nicht handle. Dass die Diskrepanz zwischen der Erfahrung der Opfer und dem, was sie übermitteln können, nicht verleugnet, sondern gestaltet ist, macht die Qualität dieses Kunstwerks aus; übrigens unabhängig davon, ob Weiss die künstlerische Abbildung des Mangels in der »Ermittlung« bewusst so konzipierte oder ob sie ihm unterlief.

Die Verfasser referieren zum Thema am 12. November um 20 Uhr in der Hamburger »Buchhandlung im Schanzenviertel«, Schulterblatt 55.