Antisemitismus ohne Bomben

Die westliche Kritik an der antisemitischen Rede des malaysischen Premierministers Mahathir blieb verhalten. Unter den islamischen Regierungschefs findet sein autoritäres Staatsmodell Zuspruch. von jörn schulz

Seine spektakuläre Abschiedsrede hatte Mahathir Mohammad eigentlich bereits gehalten. Dennoch schien es dem seit 22 Jahren amtierenden Premierminister Malaysias empfehlenswert, den Regierenden in Osttimor noch ein paar gute Ratschläge mit auf den Weg zu geben, bevor er Ende dieser Woche in den Ruhestand geht.

»Wir Malaysier verstehen die Schwächen und Grenzen der Demokratie, und wir überschreiten diese Grenzen nicht«, dozierte Mahathir bei seinem Staatsbesuch in Osttimor am Donnerstag der vergangenen Woche. Von Protesten hält der altgediente Regierungschef nicht viel. »Das Streikrecht und das Demonstrationsrecht dürfen nur sparsam benutzt werden, und sicher nicht zu politischen Zwecken.« Er verwahrte sich auch dagegen, dass NGO »die Regierung unangemessen schikanieren«.

Mahathir ist davon überzeugt, dass solche Zumutungen eine Intrige der Juden zur Schwächung der islamischen Welt sind. »Wir stehen einem Volk gegenüber, das denkt«, hatte er in der Woche zuvor den beim Gipfel der Organisation der Islamischen Konferenz (OIC) versammelten Regierungschefs erläutert. »Sie erfanden Sozialismus, Kommunismus, Menschenrechte und Demokratie und haben sie erfolgreich gefördert, damit es falsch erscheint, sie zu verfolgen, und damit sie die gleichen Rechte wie andere genießen. Dadurch haben sie nun die Kontrolle über die mächtigsten Staaten der Welt gewonnen.«

Die Shoah leugnet Mahathir nicht, er bedauert nur, dass sie nicht ausreichte, um die imaginierte Macht der Juden zu brechen: »Die Europäer haben sechs von zwölf Millionen Juden getötet. Aber heute regieren die Juden die Welt durch Vertreter.« Auch eine Endlösung fordert er nicht, er bedauert nur, dass die letzten 50 Jahre im Kampf gegen Israel vertan wurden: »Wenn wir eine Denkpause eingelegt hätten, dann hätten wir einen Plan ausarbeiten können, eine Strategie, mit der wir den Endsieg gewinnen können.« Auch bei wohlwollendster Interpretation muss die Rede als Aufruf gewertet werden, die islamische Welt zu stärken, damit sie in der Konfrontation mit Israel und der »jüdischen Weltherrschaft« siegreich sein kann.

Die wohl skandlöseste antisemitische Hetzrede eines Regierungschefs seit 1945 wurde von den OIC-Delegierten wohlwollend bis begeistert aufgenommen. Auch auf nähere Nachfrage mochte sich niemand von Mahathirs Bemerkungen distanzieren. »Ich denke nicht, dass sie in irgendeiner Weise antisemitisch waren«, erklärte der jemenitische Außenminister Abubakar al-Qirbi. »Ich denke, dass sie im Wesentlichen die Tatsachen gegenüber der islamischen Welt darlegten.« Aus den westlichen Hauptstädten wurden pflichtgemäß Protestnoten geschickt, doch dass US-Präsident George W. Bush seinen Unwillen gegenüber Mahathir persönlich zum Ausdruck brachte, war schon die schärfste Reaktion.

Mahathir selbst wertete die Proteste als Bestätigung seiner Ansichten über die Juden: »Die Reaktion der Welt zeigt, dass sie die Welt kontrollieren.« Die Kritik sei umso ungerechter, als er doch »jegliche Gewalt verurteilt« habe. Der ordnungsliebende Premierminister ist kein Freund eigenmächtiger Initiativen. Er spricht mit der Autorität des erfolgreichen Staatsmannes, steht er doch einem Land vor, das als politisch stabil und als ökonomisches Erfolgsmodell gilt. Seit dem 11. September 2001 beherbergt Malaysia sogar die höchsten Gebäude der Welt, die nach dem staatlichen Ölkonzern benannten Petronas-Towers. Damit das auch so bleibt, will Mahathir die Terroristen bekämpfen. Allerdings nur, weil er ihre Methoden für ineffektiv hält und ihre Taten dazu führen, dass »die Ummah (Gemeinschaft der Muslime) wütender wird und sich gegen ihre eigenen Regierungen wendet«.

Al-Qaida und die politisch weit einflussreichere Hauptströmung des Islamismus präsentieren sich als Avantgarde der Ummah. Um einem weiteren Legitimitätsverlust vorzubeugen, sollen die islamischen Staaten den Islamisten mit eigenen Initiativen den Wind aus den Segeln nehmen. »Die ganze islamische Ummah setzt ihre Hoffnung auf diese Konferenz der Führer der islamischen Nationen«, behauptete Mahathir. »Sie erwarten von uns, dass wir etwas tun, dass wir handeln. Wir können nicht sagen, dass wir nichts tun können, wir, die Führer der muslimischen Nationen.«

Die tatsächlich dominierende Einschätzung der OIC-Politik dürfte der pakistanische Senator Mushahid Hussain in der Tageszeitung Gulf News treffend zusammengefasst haben: »Eine Verpflichtung zu kontinuierlicher Untätigkeit mit einer Serie von Platitüden und frommen Absichtserklärungen.« Auch Mahathir hatte zur Stärkung der Ummah kein anderes Rezept anzubieten als die Wiederholung von panislamischen Phrasen und Appellen und Hinweisen auf die große Vergangenheit. Konkurrierende nationale Interessen dürften es auch in Zukunft zuverlässig verhindern, dass Öl und Petrodollars als politische Waffen eingesetzt werden.

Bei der diesjährigen Konferenz konnte sich die OIC nicht einmal auf die Wahl eines Generalsekretärs einigen. Fraglich bleibt auch, ob es ihre Glaubwürdigkeit erhöhen wird, dass sie in ihrer Erklärung zum israelisch-palästinensischen Konflikt die al-Aqsa-Intifada mit keinem Wort erwähnte und dass sie dem russischen Ehrengast Wladimir Putin jede Kritik an seiner Tschetschenien-Politik ersparte.

Der Beifall für Mahathir ist jedoch nicht nur deshalb beunruhigend, weil er beweist, dass auch in den Köpfen »gemäßigter« islamischer Regierungschefs antisemitische Vernichtungsphantasien herumspuken. Die Claqueure Mahathirs bekannten sich auch zu dessen autoritärem Staatsmodell, das die Untertanen einem ideogischen Projekt unterstellt und die säkulare Opposition zur willigen Dienerin der »jüdischen Weltherrschaft« erklärt.

Früher hatten autoritäre Regierungschefs schlicht behauptet, sie bräuchten wegen der kulturellen Besonderheiten ihrer Länder einfach mehr Zeit für die Demokratisierung. Mahathir propagiert nun ein Alternativmodell zur »westlichen« Demokratie: autoritäre Regierungsführung und rücksichtslose kapitalistische Modernisierung, versehen mit einem ideologischen Überzug aus panislamischer, antiwestlicher und antisemitischer Demagogie.

Dieses Modell ist eine Antwort auf die zweite Bedrohung, der die islamischen Regierungschefs gegenüberstehen. Die liberale Kritik wird lauter. Sie wird derzeit überwiegend von Intellektuellen vorgetragen, aber selbst in Saudi-Arabien gab es Mitte Oktober eine erste Menschenrechtsdemonstration. Auch die kulturelle Dissidenz wächst. Sie ist noch überwiegend unpolitisch, doch die Hinwendung zu Pop und Hollywood signalisiert eine für die islamischen Regimes gefährliche Distanzierung von der offiziellen Ideologie.

Mahathir ist ein Pionier dieses Kulturkampfes. Immer wieder geißelte er die westliche Unzucht, und als er seinen Stellvertreter Anwar Ibrahim loswerden wollte, ließ er ihn 1998 unter dem Vorwurf der Homosexualität ins Gefängnis werfen. Der Antisemitismus fügt sich in eine reaktionäre Gesellschaftspolitik ein, die jede emanzipatorische Regung und häufig schon den schlichten Wunsch, im Alltag etwas Spaß zu haben, zu einem jüdischen Angriff auf die Ummah erklärt.

Dass jemand den Antisemitismus salonfähig gemacht hat, ist leicht dahingesagt. Wenn sich jedoch in einer Organisation, die 1,3 Milliarden Menschen zu vertreten vorgibt, kein Protest gegen eine antisemitische Hetzrede regt, stellt das zweifellos einen Wendepunkt dar. Das bedeutet noch nicht, dass die islamischen Regierungschefs den Antisemitismus zur Staatsdoktrin erheben werden. Widersprochen hat Mahathir aber bislang keiner von ihnen.