Ein bislang unveröffentlichtes Drama von Peter Weiss.

Das deutsche Inferno

Ein bislang unveröffentlichtes Drama von Peter Weiss.

Peter Weiss – für viele ist dieser Name verbunden mit einer, häufig unvollendeten, Lektüre der »Ästhetik des Widerstands«. Die spöttisch-affirmative Rede vom »linken Heimatroman« legt Zeugnis davon ab, dass die Versenkung in diesen Text in den achtziger Jahren häufig linker Selbstversicherung dienen sollte. Es ist daher kein Wunder, dass manche sich heute von diesem Roman als einem angeblichen Dokument des »Arbeiterbewegungsmarxismus« abgrenzen wollen. Dass beide Lesarten (die sich im übrigen ähneln) dem Text nicht gerecht werden, steht auf einem anderen Blatt. Nun wurde zur Frankfurter Buchmesse ein bislang unveröffentlichtes Stück von Peter Weiss publiziert, das er 1964, unmittelbar vor der »Ermittlung« verfasste: »Inferno«. Es handelt davon, dass mit Dante ein zur Vernichtung Bestimmter in die Stadt derjenigen zurückkehrt, die ihn einstmals ermorden wollten. Als Inferno ist dabei unschwer die Nachkriegs-BRD zu identifizieren, in die der in Schweden verbliebene Exilant in den frühen sechziger Jahren mehrfach reiste. Das Drama entstand als Teil von Weiss’ »Divina Commedia«-Projekt, dem auch die Entstehung der »Ermittlung« unmittelbar zuzuordnen ist. Weiss wollte die Transposition von Dantes »Divina Commedia« (DC) in der Gegenwart in Szene setzen. Dabei wird die Bedeutung der Durchgangsorte von Dantes Reise verkehrt. Bei Weiss ist das Inferno die Welt, in der die Sünder mit ihrer Schuld bequem leben und weiter mächtig sind, es ist also die Welt der unbestraften Täter. Im Purgatorio-Teil, der die Welt der Unentschiedenheit und des Zweifels abbilden sollte, plante Weiss, »etwas von (s)einer eigenen jetzigen Situation« zu gestalten. Es liegen Notizen vor, nach denen Weiss erwog, das »Purgatori0« in einer von Jazzelementen durchsetzten freien Sprache abzufassen, das Material wurde jedoch nicht in dramatischer Form verarbeitet. Im dritten Teil, dem »Paradiso«, gab Weiss denjenigen ihre Stimme zurück, die – in der säkularisierten »Commedia« – nie erlöst werden leben können. Das Paradiso ist daher der Ort der Opfer der Shoah. Weiss begann Mitte Dezember des Jahres 1964 mit diesem dritten Teil des Projekts, in dem er sich auf Material aus dem ersten Auschwitz-Prozess, aber auch auf Zeitungsartikel und wissenschaftliche Untersuchungen stützte; durch einige Veränderungen wurde aus dem »Paradiso« dann das selbstständige Stück »Die Ermittlung«. Dass Weiss das durchgeschriebene Stück »Inferno« (es existieren zudem verschiedene, Fragment gebliebene Studien und Vorentwürfe) nie veröffentlichte, ist u.a. der Ausgliederung der »Ermittlung« aus dem DC-Projekt geschuldet. Im März 1965 wurde »Paradiso« um rascher Veröffentlichung bzw. Inszenierung willen zum eigenständigen Stück umgestaltet; aber auch aus dem inhaltlichen Zwang heraus, dass sich – wie Weiss es in einem Brief notierte – »dieses Material« nicht mehr mit dem geplanten Gesamtprojekt vereinbaren ließ. »Die Ermittlung« wurde dann am 19. Oktober 1965 an 15 deutschen Bühnen simultan uraufgeführt. Weiss’ Vorhaben, das DC-Projekt unabhängig vom Auschwitz-Stück zu konzipieren, scheiterte schließlich. Für die Entscheidung, das bereits durchgeschriebene Stück nicht zu veröffentlichen, mag auch eine Rolle gespielt haben, dass Weiss’ Lektor bei Suhrkamp, Karlheinz Braun, von einer Veröffentlichung mit der Begründung abriet, die Fabel sei nicht fasslich und das Drama erzeuge eine Konfusion mit Dante. Jetzt hat, knapp 40 Jahre später, die Witwe des Autors, Gunilla Palmstierna-Weiss, einer Herausgabe des Dramas zugestimmt, seine Uraufführung ist für die Spielzeit 2004/2005 am Bremer Theater vorgesehen. Die Veröffentlichung erfolgt bei Suhrkamp, dem von Weiss nicht immer sehr geliebten Hausverlag, und ist versehen mit einem Nachwort von Christoph Weiß, der »eine autobiographische Lektüre« des Textes nahe legt. Der Hintergrund sind Veröffentlichungen dieses Literaturwissenschaftlers, die kritisieren, der Autor habe in der »Ermittlung« eine aktualisierende Politisierung des Themas Auschwitz erreichen wollen; Peter Weiss sei dabei als überlebender Exilant vom Bemühen getrieben gewesen, »nicht noch einmal« zu spät zu kommen. Tatsächlich kommen im Stück autobiografische Momente zum Ausdruck, unverkennbar spiegeln sich darin Erlebnisse aus der Kindheit des Autors. Auch dürften sich Ausgrenzungserfahrungen verschiedener Deutschlandreisen, angefangen von Weiss’ Tätigkeit als Zeitungskorrespondent 1947 in Berlin bis hin zu Reisen Anfang der sechziger Jahre, im Stück niederschlagen. Die Schuldgefühle des überlebenden »Halbjuden«, die verarbeitende Selbstreflexion, sind jedoch nur ein Aspekt des Stückes, der in der Verschränkung mit darin vorgestellter Gegenwartsanalyse und mit dem Ringen um ein Erinnern gelesen werden muss. Der selbstreflexive Aspekt ist Motor dieses Gefüges, löst sich aber mit fortschreitender Textbewegung in der dezidierten Opfer-/Täterdynamik auf, in der sich auch Retrospektive und Gegenwartsanalyse einander zuneigen. Die an Peter Weiss exerzierte These, sein Werk könne als Ausdruck eines »Schuldkomplexes« gelesen werden, ist Teil des Problems, das gerade – und das macht seine Brisanz aus – im Stück »Inferno« Abbildung findet. Das Personal in »Inferno« betreibt nach Dantes Rückkehr unter Verweis auf seine Schuld zynisch dessen Eingliederung, um sich zu legitimieren. Im Ergebnis erneuert die »Inferno«-Gesellschaft ihre Vernichtungsdrohung aus erstarkter Position heraus. Das Ensemble radikalisiert sich damit zur Tätergesellschaft zweiter Potenz. Die historische Gegenwart im Drama bildet Erfahrungen mit dem Nachkriegsdeutschland ab; der Überlebende wird zum Opfer zweiter Potenz. Erinnerung und Erkenntnis können kollektiv nicht sein, weil die Erinnerungsverweigerung der Gesellschaft die historische Totalität ins Opfer setzt. Einzig in der Dimension des Subjektiven erhält sich eine Instanz von Kritik und Utopie.