Der mit den Puppen tanzt

In Takeshi Kitanos neuem Film »Dolls« wird aus romantischer Liebe eine brutale Tragödie. von tim stüttgen

Seit einiger Zeit schon erfreut sich das asiatische Kino in der westlichen Welt einer wachsenden Beliebtheit. Besonders der japanische Film hat sich etabliert. Sein sicherlich bekanntester und wichtigster Repräsentant ist Takeshi Kitano.

In seiner Heimat wurde Kitano als Stand-Up-Komiker bekannt. Auch als Show-Moderator und Schriftsteller, Kolumnist und Produzent, Schauspieler und Maler hat er seine Spuren in der japanischen Öffentlichkeit hinterlassen. Nennen wir ihn ein Allround-Genie, diese Bezeichnung trifft es an dieser Stelle ausnahmsweise einmal.

Seltsamerweise waren Kitanos Regiearbeiten jedoch bis vor kurzer Zeit gerade dem japanischen Publikum unbekannt. Schon in den fünfziger Jahren benötigten japanische Kino-Meister wie Akira Kurosawa den Erfolg auf europäischen Kunstfilmfestivals, bevor sie in ihrem Heimatland den verdienten Respekt zugesprochen bekamen. Erst als Kurosawa in den fünfziger Jahren einen Goldenen Löwen in Venedig gewann, wurde er in seinem Heimatland der einflussreichste Filmemacher seiner Generation. Kitano ging es ähnlich. Seit er 1997 den Regiepreis in Cannes für seinen Film »Hana-Bi« bekam, ist er endlich auch in Japan als Regisseur bekannt.

Für viele macht Takeshi Kitano nichts anderes als brutale Gangsterfilme. Tatsächlich hat ihn die verbrecherische Praxis der Yakuza immer beschäftigt, nicht zuletzt, um darin die moderne Gesellschaft des gegenwärtigen Japans zu spiegeln. Gewalt ist dabei jedoch nur ein Teil seiner asketischen Bildsprache, die ein fast existenzialistisches Bild der japanischen Gegenwart zeichnet. Kitanos Welt ist die eines Outsiders, der die Absurditäten einer von kriminellen Machtstrukturen durchtränkten Gesellschaft wahrnimmt und aushält, bis er daran zerbricht. Vielleicht lässt sich auch in Kitanos Kino die existenzielle Krise eines zwischen Tradition und Progression zerrissenen Landes wieder finden, dessen so lange von der Außenwelt abgeschnittene soziale Sphäre auf einmal mit wirtschaftlichen Krisen und dem kulturellen Pluralismus der Globalisierung aufeinander trifft.

Das alles interessiert den Großteil des europäischen Publikums jedoch wenig. Für viele ist Kitano auf etwa die gleiche Art cool, wie es Quentin Tarantino ist: Schwarze Anzüge, glänzende Knarren, blutende Menschen, Ballereien in postmodernen Settings. Darauf steht die neue Generation slackerhafter Popexotisten. Hieß die plakative Oberfläche eines alten Exotismus Zen-Buddhismus, Grüntee-Genuss und Samurai-Schwertersammlung, ist das neue »japanische Andere« im Kino der immer gewalttätigere, Frauen verachtende, emotionslose Einzelgänger. Da geht man gerne mal ins Kino und guckt sich an, was die schlitzäugigen Freaks wieder für ein Spektakel veranstalten. Zu Hause erzählt man dann, wie verrückt die Japaner sind.

Anders als der Lieblingsregisseur der europäischen Exotistenliga, Takashi Miike, hat Kitano aber auch eine ganze Reihe Filme gedreht, in denen Gewalt kaum eine Rolle spielt. »Kikujiros Sommer« (1999) zum Beispiel, in dem ein blinzelnder Ex-Yakuza einen kleinen Jungen durchs Land begleitet, um seine Mutter zu finden. Oder »Kids Return« (1996), die Geschichte zweier Schuljungen, deren Wege sich beim Erwachsenwerden trennen. Oder »Getting Any?« (1995), eine alberne Komödie in einem so überdrehten Stil, dass er auch die schnellste Screwball-Comedy abhängt. Doch leider kennt diese Filme hierzulande kaum jemand. Die meisten sind bis heute nicht in Deutschland erschienen.

Dem hedonistischen Impuls des nimmersatten Extremitätensammlers in der westlichen Welt kommt Kitanos neues Werk »Dolls« da gerade recht. Weil es mit keinem der Klischees des krassen Asiaten etwas zu tun hat. »Dolls« ist im positiven Sinne ein klassischer Kunstfilm, poetisch und langsam, tragisch und schön. Und das ist gut. Angelehnt ist er an die Tradition des »Bunraku«-Theaters, einen traditionellen japanischen Puppentheaterstil, bei dem die Figuren von den auf der Bühne stehenden Puppenspielern auf magische Weise zum Leben erweckt werden. Er wolle eine von den Puppen ersonnene Geschichte über die Menschen machen, hat Kitano gemeint: »Wenn ihre Arbeit getan ist und die Puppen allein sind, ruhen sie sich aus und beginnen, einander Geschichten zu erzählen.« Das Puppenhafte spiegelt sich nicht nur in den tragisch-romantischen Motiven des Filmes, sondern auch in den kunstvollen, hoch artifiziellen Bildern, denen eine naturalistisch gestaltete Welt schnuppe ist.

In der Tradition des in Japan einflussreichen Dramatikers Chikamatsu verflechten sich drei Kurzgeschichten zu einer brutalen Tragödie über die romantische Liebe. Die junge Sawako (Miho Kanno) und der materiell bescheiden lebende Angestellte Matsumoto (Hidetoshi Nishijama) sind seit einiger Zeit ineinander verliebt. Sie geben ein wunderbares Paar ab, dem seine Freunde eine glückliche Heirat vorhersagen. So wirkt es fast zynisch, als sich am Hochzeitstag Matsumotos herausstellt, dass er in Wahrheit die Tochter seines Chefs heiraten wird. Anstatt für die Liebe hat er sich für das Geld entschieden.

Als er hört, dass Sawako bei der Nachricht seines Verrats an ihr einen Zusammenbruch erlitt, flieht er im letzten Moment vom Hochzeitsbankett, um zu ihr zurückzukehren. Doch es ist zu spät. Sawako ist wahnsinnig geworden. Sie spricht nicht mehr und lässt sich wie ein autistisches Kind nur noch von Kinderspielzeug und bunten Farben beeindrucken. So beugt sich Matsumoto dem von ihm heraufbeschworenen Schicksal und will sich bis zum Tode um seine große Liebe kümmern. Von nun an werden die beiden, durch ein rotes Seil miteinander verbunden, durch die Straßen Japans wandern, nur noch in ihren glücklichen Erinnerungen weiter leben und einem düsteren Ende entgegensteuern.

Auf ihrem Weg durch die vier Jahreszeiten, die Kitanos Kameramann Yanagashina mit den sinnlichsten Farben beeindruckender Landschaftsmotive ausschmückt, treffen sie auf andere Figuren, deren Liebesgeschichten ebenfalls tragisch verlaufen zu sein scheinen. Zum Beispiel auf den alten Yakuza-Boss Hiro (Tatsuya Mihashi), der nie darüber hinweggekommen ist, dass er für eine Gangsterkarriere seine Geliebte verließ, die noch heute jeden Sonntag im Park auf ihn wartet. Oder Nukui (Tsutomu Takeshige), leidenschaftlicher Fan des Plastikpopstars Haruna (Kyoko Fukada), die sich nach einem Autounfall von der Showbühne zurückgezogen hat. Überfordert von der Tatsache, dass sein größtes »Idoru« (Idol) seine Karriere beendet hat, wird Nukui alles tun, um ihm nahe zu sein. Auch das kann natürlich nicht gut gehen.

Das alles mag nach einem altmodischen Film klingen. Das ist er auch. Doch Kitano beherrscht seine Arbeit so kunstvoll, dass man schon sehr tief im Gedächtnis graben muss, um ein ähnlich poetisches Werk zu finden. Es ist nur schade, dass es den Namen Kitano braucht, bis mal mal wieder eines der unzähligen leisen Meisterwerke in Europa gezeigt wird, die jährlich in Japan produziert werden.

»Dolls«, J 2002. R.: Takeshi Kitano. Start: 30. Oktober