Der Stiefel steht Kopf

Generalstreik, Rezession, Regierungskrise – nur mit Mühe kann Silvio Berlusconi seine Koalition noch zusammenhalten. Sein Stellvertreter Gianfranco Fini bastelt bereits an einer Karriere als Nachfolger. von egon günter

Funkstille im Radio und im Fernsehen, schulfrei für die Kinder. Selbst an der Mailänder Scala wurde am vergangenen Freitag nicht gesungen. Für mehrere Stunden fuhren weder Busse noch Bahnen noch Schiffe. Und auch die Autobahnen blieben leer, denn die Zahlstellen für die Gebühren blieben geschlossen. 155 Maschinen der Alitalia blieben am Boden, Banken und Geschäfte geschlossen.

Während des Ausstands, zu dem alle drei großen italienischen Gewerkschaften aufgerufen hatten, fanden Demonstrationen im ganzen Land statt. Rund eine Million Menschen versammelte sich, um gegen die Rentenpläne der Regierung zu demonstrieren. Im Gespräch ist unter anderem eine Erhöhung des Renteneintrittsalters. Schon seit langem stehen entsprechende Sparmaßnahmen auf der Agenda, doch bisher wagte es die Regierung von Ministerpräsident Silvio Berlusconi nicht, das auch in der Koalition umstrittene Thema anzugehen.

Denn Kritik ist der Cavaliere nicht mehr nur von den üblichen Seiten wie der linksliberalen Opposition, den Gewerkschaften, der Justiz und der noglobal-Bewegung ausgesetzt. Die Krise der Berlusconi-Regierung ist seit längerem augenfällig, und das »Haus der Freiheiten«, wie sich die rechte Koalition nennt, scheint seine Mehrheit zu verlieren. Das zeigte sich bereits bei den letzten Kommunal- und Regionalwahlen und bestätigt sich regelmäßig bei aktuellen Meinungsumfragen.

Die Wirtschaftskrise spricht den Versprechungen Hohn, die der Politik-Unternehmer Berlusconi seinen Wählern gemacht hat. Es vergeht kein Tag, an dem nicht einer seiner wichtigsten Förderer in aller Öffentlichkeit ein vernichtendes Urteil über die mangelnden Erfolge der Finanz- und Wirtschaftspolitik fällt. Sei es der Präsident der Bank von Italien, Antonio Fazio, der Präsident des Unternehmerverbandes, Antonio D’Amato, oder die Vorsitzende der Jungunternehmer, Anna Maria Artoni, die für Italiens Zukunft sogar argentinische Zustände prophezeit.

Auch die EU-Kommission setzt die Regierung unter Druck, ihre Finanzen zu sanieren. Das Haushaltsgesetz konnte nur nach heftigem Streit in der Regierungskoalition verabschiedet werden. Finanzminister Giulio Tremonti will die Haushaltskasse nun durch einen Ablass für Bausünder aufbessern, was auf eine Einladung an die Mafia hinausläuft, mit der illegalen Bebauung der Küsten fortzufahren. Widerstand dagegen regt sich sowohl bei der postfaschistischen Alleanza Nazionale (AN) als auch bei der christdemokratischen UDC.

Nun sorgt sein Stellvertreter, Gianfranco Fini, für neuen Streit. Ausgerechnet der Vorsitzende der Nachfolgepartei des italienischen Faschismus, der AN, sprach sich dafür aus, das aktive wie passive kommunale Wahlrecht für anerkannte Einwanderer einzuführen und die jährliche Kontingentierung aufzuheben. Der Vorschlag provozierte nicht nur wütende Proteste des Koalitionspartners Lega Nord und der Faschisten von der Forza Nuova, sondern auch bei der eigenen Basis. Fini sorgte auch für große Verblüffung in der Mitte-Links-Opposition, die 1998 als Regierungskoalition eigens das fragliche Recht aus populistischer Rücksicht auf fremdenfeindliche Reaktionen in der Bevölkerung aus ihrem Dekret zur Regelung der Einwanderung gestrichen hatte.

Der AN-Vorsitzende Fini scheint mit seinem Vorschlag eine Wende um 180 Grad zu vollziehen. Seine Partei vertrat stets die Auffassung, dass die illegale Einwanderung als kriminelles Vergehen zu ahnden sei. Auch hat sie sich nie zurückgehalten, wenn es galt, mit rassistischen Sprüchen Wähler zu gewinnen. Es ist noch nicht lange her, dass der AN-Abgeordnete Gian Paolo Landi erklärte, dass es manche Ethnien gebe, etwa die Albaner, denen die Neigung zum Verbrechen gewissermaßen im Blut liege. Das gegenwärtige Gesetz, das die diskriminierende Verwahrung illegaler Immigranten in Lagern, den Centri di Detenzione Temporanea, noch verschärft hat, trägt nicht zufällig die Namen Fini und Bossi.

Finis Vorschlag wäre nun, sofern er sich durchsetzt, die erste wirklich moderne und neoliberale Reform der vor zwei Jahren angetretenen Rechtskoalition. Haben bislang sozialdemokratische Regierungen die marktliberalen Reformen der Rechten besorgt, erleben wir nun vielleicht einmal eine von der Rechten bewerkstelligte Reform, die man ihr zwar niemals zugetraut hätte, zu der aber die Linke offenbar nicht willens oder fähig war.

Allerdings sollen nach Finis Vorstellungen Immigranten das Kommunalwahlrecht nur unter bestimmten Bedingungen erhalten. Sie müssen eine Aufenthaltsgenehmigung besitzen, sich bereits sechs Jahre in Folge im Lande aufgehalten haben, rechtlich unbescholten sein und genug verdienen, um sich und ihren Angehörigen einen ausreichenden Lebensunterhalt sichern zu können. Die Ausübung des Wahlrechts wäre also in bester ständestaatlicher Tradition an das Einkommen gekoppelt.

Mit seinem Vorschlag, die Zahl der legalen Einwanderer flexibler zu handhaben, kommt Fini vor allem den Bedürfnissen der italienischen Wirtschaft entgegen. So soll die bisherige Beschränkung auf die reine Zahl ersetzt werden durch eine Bewertung der fachlichen Eignung der Immigranten gemäß den Erfordernissen der Industrie. Das entspricht der Nachfrage des italienischen Unternehmertums, dem an der Bereitstellung flexibler und günstiger Arbeitskraft gelegen ist.

Gianfranco Fini verfolgt vor allem ein ganz anderes Ziel. Sein jüngster Schachzug soll ihn vor aller Öffentlichkeit auch dazu qualifizieren, an dem Tag, an dem Berlusconi endgültig abgewirtschaftet haben wird, die Führung der Rechtskoalition zu übernehmen. Seit er vor zehn Jahren im römischen Kurbad Fiuggi die Faschistenpartei MSI zur AN umformte, befindet sich der einstige Mussolini-Fan auf dem Weg zur Mitte, der ihn unter anderem in das italienische Konzentrationslager, die Reismühle San Saba bei Triest, und nach Auschwitz geführt hat. Einen Besuch in Israel bereitet er vor. Im Europakonvent, der den Europäischen Verfassungsentwurf ausgearbeitet hat, war Fini Verhandlungsführer der italienischen Delegation. Einzig innerhalb der Europäischen Volkspartei ist man sich noch nicht ganz einig, die AN als respektables Mitglied zu akzeptieren.

Doch auch das könnte sich ändern. Am Ende der italienischen Präsidentschaft im Europarat will die AN nun auf eine Regierungsumbildung pochen, bei der ihre Vertreter stärker als bisher berücksichtigt werden sollen. Sie tut dies im Bündnis mit einem weiteren Partner innerhalb der Viererkoalition. Denn auch die ehemaligen Christdemokraten der UDC fühlen sich in der Regierung unterrepräsentiert. Mit dem Außen-, Verteidigungs-, Innen- und Wirtschaftsministerium hält Berlusconis Forza Italia alle bedeutenden Ministerien in der Hand. In der Wahlrechtsdebatte fand Fini daher sofort Unterstützung bei der UDC. Auch die internen Oppositionsströmungen der AN, die Destra nazionale und die Nuova alleanza, die sonst mit Finis Führungskurs hadern, griffen das Thema auf. Schon lange standen die Postfaschisten nicht mehr so im Rampenlicht wie nach Finis reformerischen Auslassungen.

Berlusconi, der lediglich ein paar oberflächliche Veränderungen seiner Regierungsmannschaft ins Auge gefasst hat, kommt der ständige Hauskrach höchst ungelegen. Seinen Rat an die Streithähne hat er Alexandre Dumas’ Musketieren entnommen: »Einer für alle und alle für einen.« Den Regierungspakt, der nichts weniger als den Umbau der italienischen Institutionen vorsieht, will er nicht wegen minder wichtiger Fragen zerbrechen lassen. Wie etwa eines Wahlrechts für Einwanderer.