Alle fürs Ganze

Dass der Widerstand gegen den Sozialabbau bisher so gering war, hängt mit der deutschen Ideologie zusammen und mit der Verklärung der Arbeit. von andreas baumgart

In Deutschland dominiert seit jeher die soziale Konfliktverwaltung entweder von oben über den Staat oder über korporative bzw. sozialpartnerschaftliche Bündnisse, die den Staat mit einbeziehen. Die viel zitierte Metapher vom Vater Staat drückt das treffend aus. Die antiautoritäre Jugend- und Studentenbewegung in der BRD, die in der Folge eintretende Demokratisierung und Liberalisierung des Denkens und eine zeitweise offensiver auftretende Gewerkschaftsbewegung beförderten in Teilen der Bevölkerung ein selbstbewussteres und autonomeres Bürgerverständnis, das aber nie hegemonial wurde.

Die eine Zeit lang in die Defensive gedrängte deutsche Ideologie, die auf der Annahme einer deutschen Schicksalsgemeinschaft und einer deutschen Rasse basiert, begann sich Ende der achtziger Jahre wieder verstärkt zu manifestieren. Deutlich zeigte sich dies u.a. an einer immer offener ausgedrückten Ausländerfeindlichkeit, an rassistischen und antisemitischen Aktivitäten und den intensivierten Versuchen, sozialökonomische Probleme im Rahmen korporativer Bündnisse zu lösen.

Dann brach mehr oder weniger unerwartet die DDR zusammen, und die Vereinigung beider deutschen Staaten nahm ihren Lauf. Sie stellte eine dramatische Zäsur dar, Willy Brandt formulierte die von der großen Mehrheit der Deutschen geteilte Prämisse: »Jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört.«

Warum gehörte das zusammen? Die Formel setzt eine deutsche Volksgemeinschaft oder eine deutsche Rasse voraus, die qua Schicksal oder biologischer Identität zusammen gehöre. Die in der ehemaligen BRD erstarkten völkischen Tendenzen gingen eine verhängnisvolle Symbiose mit denjenigen in der DDR ein. Die DDR war ein Korporativstaat par exellence, in dem Autoritätsgläubigkeit, Untertanengeist und Deutschtümelei vorherrschten. Die Pflege des deutschen Brauchtums (des angeblich historisch guten Deutschlands) rangierte an oberster Stelle, drapiert mit einer völkerfreundschaftlichen, internationalistischen Rhetorik.

Mit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten avancierte das volksgemeinschaftliche Gedankengut rasch zum hegemonialen, und selbst Menschen, die man für autonomere Bürger gehalten hat, kennen inzwischen nur noch ein Anliegen: den Standort Deutschland zu sichern. Den mit der Vereinigung angewachsenen sozioökonomischen Problemen wird so begegnet, wie es einer völkischen Schicksalsgemeinschaft zu Gesicht steht: Statt Rechte zu verteidigen, werden ideologische und praktische Angriffe gegen als Volksschädlinge identifizierte Menschen wie AusländerInnen, AsylbewerberInnen, MigrantInnen, Deutsche dunklerer Hautfarbe, Menschen jüdischen oder moslemischen Glaubens, Arbeitslose oder SozialhilfeempfängerInnen geführt.

Neben Österreich ist es in keinem anderen Land so rasch gelungen, Begriffe wie Ausländer, Asylant oder Sozialhilfeempfänger in Schimpfwörter zu verwandeln. Aber auch bei den politischen Kräften, die von sich behaupten, diesem Treiben kritisch gegenüberzustehen, steht das deutsche Gemeinschaftsdenken im Mittelpunkt. Ob die Grünen, die PDS, die Jusos, die Gewerkschaften oder soziale Verbände, alle möchten Verantwortung für Deutschland übernehmen, wollen dem deutschen Volk dienen.

Und nicht zuletzt scheint eine weit verbreitete Eigenart die Mehrheit der Deutschen an der Wahrnehmung ihrer persönlichen sozialen Interessen zu hindern: Glückshormone werden immer dann ausgeschüttet, wenn man Lob für sein braves Verhalten oder seine Leidensfähigkeit (etwa in Form unbezahlter Arbeitsstunden) einheimst, und nicht, wenn man sich gegen Ungerechtigkeiten wehrt. Im Kontext dieser Restauration der deutschen Schicksalsgemeinschaft setzt sich reibungslos die größte Vermögensumverteilung der deutschen Nachkriegsgeschichte durch. So viel zur deutschen Besonderheit.

Nun zu den systembedingten Ursachen. Der »kleine Mann« denkt wie der »große Mann«. Fragt man einen Arbeiter oder Angestellten, was er täte, wenn er plötzlich zu Vermögen käme oder gar selbst der Chef wäre, lautet die Antwort: »Genau das Gleiche wie mein Chef.« Diese Antwort ist letzten Endes der seltsamen Verkehrsform geschuldet, in der sich zwischenmenschliche Beziehungen auf Basis des Tauschs in Geld verdinglichen und ein entsprechendes verallgemeinertes verdinglichtes Bewusstsein erzeugen. Die AgentInnen des Tauschs, die BürgerInnen, denken unabhängig von ihrer jeweiligen sozialen Stellung in den gleichen Kategorien der Anschauung. Der Tausch und die Aufspaltung der Gesellschaft in verschiedene voneinander getrennten Sphären wie Staat, Arbeit, Freizeit, Erziehung, Familie, Politik, Ökonomie, Wissenschaft usw. gelten dem bürgerlichen Bewusstsein als unabänderliche und nicht hintergehbare Naturphänomene. Ob in der Charaktermaske des Arbeiters oder des Kapitalisten steckend, die BürgerInnen interessiert, wie sie in den Besitz des Geldes kommen, und nicht, in welche Zwangsjacke sie wegen des Warentauschs eingeklemmt sind.

Im Prinzip zermartern sich die Lohnabhängigen mit den gleichen ideologischen Vorstellungen über die gesellschaftlichen Verhältnisse den Kopf wie die politischen und ökonomischen EntscheidungsträgerInnen auch. Dass einige ökonomisch dabei besser abschneiden als andere, mag Neid und ab und an Verteilungskonflikte mit sich bringen, rührt aber nicht an dem prinzipiellen Verständnis für die Nöte und Zwänge, denen auch die KapitalbesitzerInnen ausgesetzt sind.

Lohn- und GehaltsempfängerInnen akzeptieren, dass rationalisiert werden muss, wenn das Unternehmen konkurrenzfähig bleiben soll, und sind zu jedem Verzicht bereit, wenn es dem Ganzen dient. Selbst für den eigenen Rausschmiss, der zur Sicherung der Firmenexistenz erfolgt, haben sie im Prinzip Verständnis. Es wäre ihnen nur lieber, wenn es jemand anderen träfe.

Dieses Denken bildet die Grundlage für den breiten gesellschaftlichen Konsens, der in den kapitalistischen Zentren vorherrscht. Das moderne demokratische Bewusstsein ist Ausdruck des zu sich gekommenen warenförmigen Denkens, das seine eigenen Schranken nicht einmal mehr erkennen kann und sich deshalb jede Lösung sozialer Probleme nur auf der Basis von Arbeit und Geld im Rahmen eines so genannten Wirtschaftswachstums vorstellen kann. Deshalb sieht es, trotz gewisser Unterschiede von Land zu Land, im Prinzip überall gleich düster und perspektivlos aus.

Auch in Deutschland gibt es natürlich Kritik. In den Gewerkschaften, auch am Rand der etablierten Parteien, in den Kirchen und Sozialverbänden richtet sie sich gegen die Verteilung des monetären Reichtums. Die Reichen sollen mehr abgeben, sie sollen endlich Verantwortung für Deutschland übernehmen, die Gehälter der Manager seien zu hoch, die Sozialhilfe zu niedrig usw. Doch ist es die Aufgabe einer systemkritischen Linken, eine radikale ökonomistische Bewegung in Deutschland voranzutreiben? Soll sie ArbeiterInnen, die auf ihr Geld verzichten möchten, dazu überreden, dies nicht zu tun? Ich glaube nicht.

Die wichtigste Aufgabe besteht darin, die gängigen Illusionen über die Erfolgsaussichten der Umverteilungskämpfe zu kritisieren und gleichzeitig eine Kritik am warenförmigen System zu üben, die diesen Namen auch verdient. Das heißt, es geht nicht einfach um ein Revival des traditionellen Marxismus bzw. der unterschiedlichen Ismen, die nicht ohne Grund untergegangen sind. Bisher stand mehrheitlich die ungerechte Verteilung monetären Reichtums und nicht die Kritik an den wichtigsten Fetischen des Kapitalverhältnisses, wie des Geldes (des Tauschs) und der Arbeit im Vordergrund.

Nicht die mangelnde Warenproduktion und die ungerechte Verteilung des Geldes plagen vorrangig die kapitalistischen Zentren, sondern die Folgen der mikroelektronischen Revolution. Diese hat eine Epoche der unaufhaltsamen Reduzierung menschlicher Arbeitskraft in allen Sphären der Produktion und Verteilung eingeleitet und damit auch der Produktion des Mehrwerts. Das traditionelle linke Denken bleibt aber nach wie vor der bürgerlichen »Illusion des freien Willens« (Marx) verhaftet und meint, Arbeit, Geld, Wissen usw. seien frei disponible Größen, die bei entsprechendem Willen so oder so beinflussbar wären. Die vom System erzeugten Sachzwänge fallen dabei unter den Tisch.

Durch die Arbeit wird unablässig ein entfremdetes Dasein perpetuiert. Sie bedeutet permanente (Selbst-) Disziplinierung, Zwang zur Zeitrationalität im Sekundentakt, Unterwerfung unter fremden Befehl, instrumentelle Reduktion des Denkens und des körperlichen Ausdrucks, Angst und Konkurrenzdenken. Die Freizeit, das Ergebnis der Aufteilung der Tätigkeiten in getrennte Sphären, ist nur ein Mittel zur Regeneration der Arbeitsfähigkeit.

Die Verhaltensweisen und Denkmuster in der Arbeitswelt, gekoppelt an die des Tauschs, werden nicht nur in die Freizeit hineingezogen, sondern bestimmen das gesamte Alltagsleben bis hin zur Sexualität. Die Arbeit ist der universelle und schillerndste Fetisch des Kapitalverhältnisses: Sie kann Strafe, Erfüllung, Drohung, Freude, Todeswerkzeug, Elendsbringer, Krankmacher, Versprechung, Mühsal, Identität, Daseinsberechtigung und Fluch sein.

Der eigentliche Skandal ist nicht der Mangel an Arbeit, sondern die Lebensweise, die die Arbeit aufzwingt. Die Linke sollte sich neben der Kritik der Funktionsweise des Systems und dem notwendigen Kampf gegen bestimmte Auswirkungen vorrangig damit befassen, welche Perspektiven sich einer Gesellschaft ohne Arbeit und Tausch vor dem Hintergrund der existierenden materiellen und geistigen Produktivkräfte eröffnen würden. Was hieße das für die Gestaltung der zwischenmenschlichen Beziehungen, welche Tätigkeiten würden im Vordergrund stehen, wie könnten sie aussehen? Doch solche Überlegungen werden gescheut. Woher rührt diese panische Angst?

Der Text ist eine überarbeitete Fassung des Vortrags, den Baumgart bei der Veranstaltung der Jungle World »Work hard, die young« im Oktober 2003 in Hamburg hielt.