Fantastischer Realismus

In Brasilien hat unter der Regierung Lulas die Unterdrückung der Landlosenbewegung noch zugenommen. Ihre wichtigsten Führer sitzen jetzt im Knast. von klaus hart, são paulo

Viele Brasilianer reagierten verblüfft, verwirrt und wütend. Anstatt endlich für die Freilassung der seit Juli inhaftierten Führer der Landlosenbewegung MST zu sorgen, lässt Staatspräsident Luiz Inácio Lula da Silva ihnen von seinem persönlichen Berater, dem Befreiungstheologen Frei Betto, beim Knastbesuch »herzliche Grüße« ausrichten.

»Ein Akt unglaublichen Zynismus, schlechten politischen Geschmacks«, schimpft ein Sprecher der Landlosenbewegung gegenüber der Jungle World. »Als ob der Staatschef Lula mit der Sache nichts zu tun hätte und wie früher lediglich Vorsitzende der Arbeiterpartei wäre.« Lula akzeptiere damit nicht weniger, als dass es unter seiner Regierung politische Gefangene gebe.

Für die brasilianischen Medien handelt es sich dabei um einen Fall von paradoxem, fantastischem Realismus, wie er wohl nur in einem Tropenland möglich sei. Da es nur in Diktaturen üblich sei, Menschen wegen ihrer Gesinnung einzusperren, folgerte das Nachrichtenmagazin Veja, handele es sich bei Brasilien wohl um eine solche.

Was sich im Präsidentenpalast zwischen Lula und seinem unabhängigen Berater Frei Betto abspielte, ist leicht zu rekonstruieren: Proteste, Solidaritätsaktionen zugunsten der politischen Gefangenen wurden seit September immer heftiger, die Gewerkschaften und auch die katholische Kirche Frei Bettos schlossen sich an. Daraufhin unterrichtete Frei Betto den nur ein Zimmer weiter amtierenden Staatspräsidenten ganz offiziell von seiner Absicht, demonstrativ den bei São Paulo inhaftierten MST-Führer Josè Rainha, dessen Frau Diolinda sowie den populären Sänger der Landlosenbewegung, Felinto Prokopio, noch vor dem dortigen Weltkongress der Sozialistischen Internationale zu besuchen. Betto deklarierte die Inhaftierten ausdrücklich als »presos politicos«. Und bekam diesen makabren Spruch mit auf den Weg ins Gefängnis.

Zuvor hatten sich Szenen wie zur Diktaturzeit abgespielt. Sondereinheiten der Militärpolizei preschten in Jeeps vor die Zentrale der Landlosenbewegung MST in der Metropole São Paulo, Beamte mit Maschinenpistolen stürmten das kleine einstöckige Gebäude und suchten nach weiteren Führern der Organisation.

19 MST-Aktivisten waren bereits als politische Gefangene eingesperrt, jetzt wurden Haftbefehle gegen weitere elf erlassen. Alle wurden in Abwesenheit »wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung« von einem Richter des sozialdemokratisch regierten Bundesstaates São Paulo zu zwei Jahren und acht Monaten verurteilt, Rainha sogar wegen illegalen Waffenbesitzes. Er nennt den Vorwurf frei erfunden.

Am MST-Hauptsitz wurden die Sondereinheiten jedoch nicht fündig, denn alle Gesuchten konnten offenbar rechtzeitig untertauchen. Aber im Hinterland des Bundesstaates, in dem über tausend deutsche Firmen ansässig sind, überwältigte die Militärpolizei ganz in der Nähe von Landlosencamps Diolinda Alves de Souza und entriss sie mit Gewalt ihren beiden Kindern. Diolinda hat auch den Beinamen »Guerreira«, weil sie Großgrundbesitzern und deren bewaffneten Milizen stets besonders kühn Paroli bot, immer wieder Landbesetzungen und Demonstrationen anführte.

Unter Lulas neoliberaler Mitte-Rechts-Regierung häufen sich im größten lateinamerikanischen Land gravierende Menschenrechtsverletzungen, werden fast täglich Indianer, Bürgerrechtler und Kleinbauern ermordet, wüten Todesschwadronen, gehört selbst Folter weiterhin zum Alltag. Doch offizielle Proteste des Auslands, gar Sanktionen wie im Falle Kubas, bleiben aus. Kein Wort dazu natürlich auch von den deutschen Ministern Jürgen Trittin und Renate Künast, die Anfang November Brasilien besuchten.

Dabei erklärte der MST-Menschenrechtsanwalt Mariano Gomes der Jungle World, dass »jener Richter, der unsere Leute aburteilte, die Regierung des Bundesstaats hinter sich hat«. Die beiden Verurteilten seien »eindeutig politische Gefangene« und würden unter einem Vorwand eingesperrt. Es sei absurd, dass es unter der Regierung von Staatspräsident Lula politische Gefangene gebe, ergänzte er. Prokopio und Rainha habe man absichtlich anfangs in ein Hochsicherheitsgefängnis gesteckt, um aller Welt zu demonstrieren, dass sie für die Gesellschaft hoch gefährlich seien. »Dass sie hinter Gittern sind, soll auf jeden Bürger abschreckend wirken, der gegen die Zustände aufbegehrt. Pass’ gut auf, sonst geht es dir genauso«, sagte Gomes.

Der MST-Führer Josè Rainha war zuvor bereits viermal im Gefängnis, kam allerdings stets nach Protesten frei. Grotesk, dass die Landlosenbewegung derzeit sogar den Staatssekretär für Menschenrechte, Nilmario Miranda, auf ihrer Seite hat. »Die Banditen sind die Großgrundbesitzer«, sagte Miranda wörtlich, »doch sie werden nicht eingesperrt.«

Aber wäre es für Lula nicht ein Leichtes, wie viele in Brasilien meinen, die politischen Gefangenen freizulassen, und sei es per Präsidentendekret? Brasiliens noch sehr rückschrittliche, konservative Justiz sei zwar formell unabhängig, richte sich aber faktisch nach den Interessen der Eliten, meint der Anwalt der Landlosenbewegung. Die Regierung wolle wiederum die Großgrundbesitzer nicht frontal angreifen, um die Koalition nicht zu gefährden. Gleichzeitig versuchen rechtsgerichtete Politiker, an Einfluss zu gewinnen. »Die Rechten werden versuchen, die Regierung zu übernehmen, falls die Gesellschaft sie nicht daran hindert«, kommentiert Gomes die aktuelle Situation. »Das MST zu kriminalisieren, gehört zur Strategie dieser Rechten.« So gehört beispielsweise der Stellvertreter des Staatspräsidenten, der Milliardär und Großunternehmer Josè Alencar, zur rechtsgerichteten Liberalen Partei PL, die von einer fundamentalistischen Sektenkirche dominiert wird.

Die Landlosenbewegung fürchtete nach der Verhaftung von Rainha und Prokopio um das Leben der beiden Aktivisten. Beide saßen zunächst in fensterlosen Strafzellen und waren potenziellen Übergriffen durch andere Gefangene ausgesetzt. »Wenn von denen jemand beschließt, unsere Leute zu ermorden, wird er berühmt, erwirbt er sich Respekt bei den anderen Gefangenen. So geht es nun einmal zu in den brasilianischen Haftanstalten. Deshalb sind politische Häftlinge in größter Lebensgefahr«, erklärt ein Sprecher der Landlosenbewegung.

Auch für Bischof Tomas Balduino, Präsidenten der befreiungstheologisch orientierte Landpastorale CPT in der katholischen Kirche, ist das alles nicht hinnehmbar. »Seit Lula an der Regierung ist, hat die Verfolgung des MST sogar noch zugenommen. Schwer zu übersehen, dass die Justiz Positionen der Geldelite vertritt.« Nicht nur für die Landpastorale und den MST ist es ein grotesker Zustand, dass Brasilien zwar massenhaft Nahrungsmittel, darunter Fleisch, Früchte und Soja, in die Europäische Union und auch nach Deutschland exportiert, gleichzeitig in einer der größten Wirtschaftsnation der Welt etwa vierzig Millionen Brasilianer kaum etwas zu essen haben, sogar Hunger leiden. Brasilien ist derzeit der größte Fleischexporteur der Welt. Neoliberale Verhältnisse pur.

Auf dem Kongress der Sozialistischen Internationale in São Paulo, der im Oktober von Lulas Arbeiterpartei (PT) ausgerichtet wurde, verlor die SPD-Delegation kein Wort über die politischen Gefangenen und die gravierenden Menschenrechtsverletzungen im Lande. Bemerkenswert, dass auch die deutsche Solidaritäts- und Menschenrechtsbewegung die Gefangenen bisher völlig im Stich gelassen hat.

Anfang November wurde Diolinda und Prokopio vorläufig freigelassen, müssten indessen erneut in den Knast, falls die nächste Instanz die Urteile bestätigt. Rainha, der derzeit populärste und wichtigste MST-Führer, ist indessen weiter hinter Gittern – ebenso wie neunzehn andere Aktivisten in ganz Brasilien. Seit Lulas Amtsantritt wurden bisher rund fünfzig ermordet.