Alles eine Frage der Bewegung

Auf dem Europäischen Sozialforum diskutieren Basisinitiativen und Linksparteien über einen neuen Internationalismus und lokale Aktionen. von bernhard schmid, paris

In vielen Städten Europas kursiert derzeit die gleiche Idee. Während man in Frankreich bereits seit einigen Wochen darüber diskutiert, wurde sie nun auch von deutschen Alternativmedien und Aktivistinnen aufgegriffen. Nach der gelungenen Demonstration gegen die regressiven »Reformen« im Sozialabbau vor zwei Wochen in Berlin soll jetzt europaweit wiederholt werden, was vor einigen Monaten der Antikriegsbewegung auf internationaler Ebene gelang. Von einem »sozialen 15. Februar« ist die Rede.

Gemeint sind zeitgleiche Massendemonstrationen in den verschiedenen europäischen Ländern – ähnlich denen gegen den Irakkrieg zu Jahresanfang –, die sich gegen die überall stattfindenden so genannten Sozialreformen neoliberal inspirierter Regierungen richten sollen. Im Unterschied zu damals dürfte dieses Mal eine aktive Unterstützung durch die jeweiligen Regierungen auch dort, wo sozialdemokratische oder grüne Parteien den Abbau sozialer und den Ausbau repressiver Staatsfunktionen betreiben, eher ausbleiben.

Die Idee zum Aktionstag im Februar dieses Jahres war im November vergangenen Jahres in Florenz lanciert worden, nachdem die Antikriegsbewegung in den USA den Termin bereits zuvor für Nordamerika festgelegt hatte. Den Anlass, um die Initiative zu lancieren, bot damals das erstmalig stattfindende Europäische Sozialforum (ESF).

Die Idee zu internationalen Treffen solcher Art, bei denen die verschiedenen Kämpfe für eine »andere Welt« zusammengeführt werden sollen, wurde Anfang des Jahrzehnts durch das Weltsozialforum im südbrasilianischen Porto Alegre populär gemacht. Seit Januar 2001 hat dieses weltweite »alternative Gipfeltreffen« nun bereits drei Mal stattgefunden; im nächsten Jahr wird es nun den Ort wechseln und erstmals in einer asiatischen Metropole stattfinden, nämlich in Bombay.

Am Anfang stand der Gedanke, dass es einen neuen weltweiten Zyklus gesellschaftlicher Mobilisierungen und sozialer Kämpfe sowie eine Neuauflage der Kritik an der Funktionsweise weltwirtschaftlicher Strukturen gebe. Vielfach war damals von einem neuen Internationalismus die Rede. Vom alten parteikommunistischer Prägung unterscheide diesen, dass er über keinerlei internationales Zentrum verfüge. Auch beziehe er sich nicht mehr auf Nationalbewegungen und die Neugründung von Staaten, wie der Antiimperialismus während der Ära der Entkolonialisierung in Afrika und Asien. Sein Subjekt seien vielmehr gesellschaftliche Basisbewegungen, Gewerkschaften, aber auch NGO – mehr oder minder professionelle und oft halb- oder parastaatliche Nichtregierungsorganisationen – und Netzwerke alternativer Wirtschaftswissenschaftler.

Allerdings fanden sich in dem heterogenen Spektrum immer auch unterschiedliche Orientierungen. Während die einen den Nationalstaaten »Regulationsspielräume« zurückgewinnen möchten und eine eher etatistisch-protektionistische Perspektive verfolgen, streben andere nach einer Zusammenarbeit sozialer Bewegungen »von unten«.

Die spektakuläre Blockade eines Gipfeltreffens der Welthandelsorganisation WTO im nordamerikanischen Seattle im Dezember 1999 bildete einen ersten Höhepunkt. Doch viele waren der Ansicht, dass die Agenda der Mobilisierungen künftig nicht mehr länger durch die Gipfelveranstaltungen der weltweiten Führungsmächte oder der wichtigsten weltwirtschaftlichen Institutionen bestimmt werden sollte. Um zu vermeiden, dass man sich stets an der Agenda der Gegenseite abarbeite und wie eine Karawane den Versammlungen der Mächtigen dieser Welt hinterher ziehe, sollte die »Bewegung der Bewegungen« nunmehr ihren eigenen Termin- und Themenkalender vorgeben.

Eingeweiht wurde diese Idee mit dem ersten Treffen von Porto Alegre, das ungefähr parallel zum World Economic Forum im schweizerischen Davos stattfand. Das Konzept wurde in der Folgezeit auf zahlreichen Ebenen nachgeahmt; das Konzept lokaler Sozialforen kam in Frankreich gerade in den letzten Wochen in Mode, im Zuge der Vorbereitung des ESF. In 150 Städten versammelten sich seit Anfang Oktober verschiedene soziale Gruppen zu Stadtteil- oder stadtweiten Foren. Hier ging es um die geplante Schließung eines Postamts, dort wurde ein Film über die Arbeitsbedigungen im Gesundheitswesen gezeigt. Anderswo ging es um Krieg und Frieden oder um die Frage, ob »solidarisches Wirtschaften« möglich sei.

Um solche und ähnliche Themen wird es auch auf dem ESF gehen, wo Krieg, Neoliberalismus, Vermarktung und marchandisation (»Zur-Ware-Machen«) von immer mehr gesellschaftlichen Bereichen zu den wichtigsten Themen gehören. Auch zur extremen Rechten und der notwendigen Abgrenzung der so genannten Globalisierungskritik von ihrem Diskurs – in Frankreich spiegelt sich die Distanzierung im Wechsel der Selbstbezeichnung von antimondialisation (Anti-Globalisierung) zu altermondialisation (alternative Globalisierung) wider – werden Versammlungen und Seminare angeboten. Ein eigener Pool ist der Ökologie gewidmet.

Insgesamt sollen von Donnerstag bis Samstagmittag 55 Plenarsitzungen stattfinden sowie über 250 Seminare – die beim ESF angemeldet und mit Übersetzern ausgestattet sind – und noch mal so viele Workshops, die von einzelnen Gruppen in Eigenverantwortung ausgerichtet werden.

Über die »Zukunft der Selbstverwaltungsidee« kann dabei ebenso diskutiert werden wie über die Kontroverse von Religionskritik versus »Rolle der Religionen im Widerstand gegen die herrschende Weltordnung«, über soziale Bewegungen im Maghreb oder die Rolle europäischer Wirtschaftsinteressen und Waffenexporte in Lateinamerika. Dass feministische Themen nicht unter den Tisch fallen, dafür soll noch vor der ESF-Auftaktveranstaltung am Mittwoch eine europaweite Versammlung zu den Rechten der Frauen sorgen.

Die Veranstalter rechnen damit, dass zwischen 60 000 und 100 000 Besucher an den Debatten teilnehmen werden. Und dabei wird es voraussichtlich auch zu Auseinandersetzungen kommen. Schließlich geht es bei dem Treffen nicht nur um die richtigen Antworten, sondern auch darum, wer in dem Forum die politische Hegemonie gewinnen kann.

Die vormals in Frankreich regierenden Linksparteien – Sozialdemokratie, Grüne und KP – werden sicherlich bemüht sein, neben der radikalen Linken und sozialen Bewegungen eine möglichst starke Präsenz auf dem Forum zu zeigen. Dabei verhalten sich die Sozialdemokraten allerdings noch sehr vorsichtig, da ihre Teilnahme am Widerstandsfestival auf dem Plateau Larzac im August nicht nur auf Begeisterung stieß. Anarchistische Gruppen und Obdachlosenkomitees hatten damals gemeinsam ihren Stand demontiert.

Am Sonntag sollen dann Delegierte europäischer sozialer Bewegungen auf einer gemeinsamen Konferenz gemeinsame Aktionen beschließen. Falls die Idee einer europaweiten Mobilisierung für den 15. Februar verabschiedet würde, so könnte vom ESF ein starkes Signal ausgehen. Nachdem in jüngster Zeit in Italien gestreikt und in Berlin demonstriert wurde, könnte die Suche nach verstärkter Konvergenz zwischen den einzelnen Kämpfen hervorgehoben werden.

Wünschenswert wäre nur, dabei die Falle zu vermeiden, die in der Affirmation eines vermeintlichen »Sozialmodells Europa« – etwa als positive Alternative zu den USA – bestünde. Denn daran, dass aus diesem kleineren Übel ein immer größeres Übel wird, arbeitet die Gegenseite in Europa eifrig.