Lokführer der Geschichte

Die Europäer wollen die USA für alles Schlechte in der Welt verantwortlich machen, woraus sie selbst den größten Nutzen ziehen. von gerhard scheit

Geht doch rüber!« – werden die amerikanischen Linken sicherlich bald zu hören bekommen. Zu Recht, wenn sie so links sind wie Jacques Derrida und Jürgen Habermas, Jean Baudrillard und die italienischen KP-Nachfolger von der Rifondazione Comunista, das Weltsozialforum und Ted Honderich.

Europa soll wieder die Lokomotive der Geschichte werden, fordern Habermas und Derrida. Sie greifen dabei wie in einer Fehlleistung auf die alte Revolutionsmetapher von Marx zurück: »Die Revolutionen sind die Lokomotiven der Geschichte.« Nun aber heißt es in ihrem Essay »Nach dem Krieg: Die Wiedergeburt Europas«, das in der FAZ veröffentlicht wurde: »Das avantgardistische Kerneuropa darf sich nicht zu einem Kleineuropa verfestigen; es muss – wie so oft – die Lokomotive sein.« Nach Auschwitz diese Metapher für Kerneuropa in Anspruch zu nehmen – dazu ist nur imstande, wer sein antiamerikanisches Ressentiment nicht mehr im Griff hat. Die europäischen Intellektuellen sind darin längst geeint: »Unerträglich«, so Baudrillard, »ist weniger das Unglück, das Leid oder die Armut als vielmehr die Macht selbst und ihre Arroganz. Unerträglich und inakzeptabel ist das Auftauchen dieser ganz neuen globalen Macht«, wie er vor einiger Zeit in der Frankfurter Rundschau kommentierte.

Die USA werden als diese »ganz neue globale Macht« projiziert, die jeder Ausbeutung auf der Welt zu Grunde liegt. Sie werden in der absurden, aber dennoch praktikablen Form eines universell gewordenen Kolonialstaats beschworen; man spricht von Imperialismus, ohne noch eine Ahnung von Kritik der politischen Ökonomie zu haben. Leid und Armut sind ja, wie Baudrillard deutlich macht, nicht wirklich schlimm, wirklich schlimm ist die Arroganz der USA: feine Unterschiede; man erklärt die ganz neue globale Macht zur Ursache aller negativ empfundenen Erscheinungen der bürgerlichen Gesellschaft und drückt eben darin das eigene, bereits vollendete Einverständnis mit dieser Gesellschaft aus. Es schlägt sich nicht nur wortreich im Feuilleton nieder, es organisiert sich vor allem kollektiv in Form von Sozialforen, Kommunismuskonferenzen und Friedensmärschen. Hier heißt es nicht abgehoben »Entkoppelung von Lebenswelt und System« oder »natürliche Ordnung des Körpers, des Geschlechts, der Geburt und des Todes« gegen »virale Gewalt der Netze und des Virtuellen, der sanften Vernichtung«; hier wird volksnah proklamiert: »Kein Blut für Öl!« oder »Die Entscheidungen müssen von den Völkern getroffen werden!« Die Konferenz der europäischen antikapitalistischen Linken in Madrid im vergangenen Jahr nannte es einfach »Für Solidarität und Einheit der Welt der Arbeit auf kontinentaler Ebene!«.

Dem Weltsozialforum im brasilianischen Porto Alegre folgte geradezu organisch ein Europäisches Sozialforum, das zum ersten Mal im vergangenen Jahr in Florenz abgehalten wurde und nun in Paris stattfindet. Aus dem Slogan »Eine andere Welt ist möglich!« wird dessen Kern herausgeschält: »Ein anderes Europa ist möglich!«, das Geheimnis der Globalisierungskritik wird gelüftet: Es geht um Europa, die Dritte Welt dient vor allem als ideologische Legitimation. Natürlich werden die Entscheidungen der Europäischen Union dabei stets »von links« kritisiert – ähnlich wie nach 1968 die Institutionen beim langen Marsch durch sie hindurch.

Europa gilt jedenfalls als »die kleinste Einheit für die Wiedergeburt der Politik im Interesse der unteren Klassen«, und diese Wiedergeburt soll ein »anderes«, ein »unabhängiges Europa« hervorbringen, das nach dem Süden und Osten orientiert ist und »für ein anderes soziales und politisches Modell steht als das der Globalisierung«, wie es die Rifondazione Comunista in einem Aufruf formulierte. Was diese neuen, wahrhaften Euro-Kommunisten dann tatsächlich bewirken können, ist immer nur eins: den Hass auf die USA zu schüren.

Es fällt schwer, Unterschiede auszumachen. Die berüchtigte »Antiimperialistische Koordination« (AIK) aus Wien, die inzwischen für den irakischen »Widerstand« sammelt, spricht es bloß offener aus: Allein die »Durchsetzung des Rechts auf nationale Souveränität« könne den »globalen Kapitalismus stoppen oder verlangsamen«; diese Souveränität sei also das »wichtigste und elementarste Menschenrecht«, »das die USA nicht von ungefähr im Visier haben«.

So lassen auch die Aufrufe zum breit angelegten Weltsozialforum in Porto Alegre keinen Zweifel, dass nicht das Individuum und die Massen, sondern das Volk und die Völker Ausgangs- und Endpunkt der Globalisierungskritik bilden: »Neoliberale Globalisierung zerstört die Umwelt, Gesundheit und den Lebensraum der Völker … Die Finanzmärkte entziehen den Gemeinschaften und Nationen Ressourcen und Reichtum und unterwerfen nationale Wirtschaften der Willkür der Spekulanten. (…) Wir fordern alle Völker rund um die Erde auf, sich diesem Kampf für den Aufbau einer besseren Welt anzuschließen. Das Weltsozialforum von Porto Alegre ist ein Weg, die Souveränität der Völker und eine gerechte Welt zu errichten.« Was vor allem auf diesem Weg liegt, bezeichnet eine Passage am Schluss des Aufrufs, worin »die Solidarität mit dem palästinensischen Volk und seinem Kampf für Selbstbestimmung« als eine der »fundamentalsten Aufgaben unserer Bewegung« ausgewiesen wird.

Dem Sozialforum in Porto Alegre folgte darum eines in Ramallah: Ein anderer Naher Osten ist möglich! Wer sich an ein Volk und die Völker wendet und nicht an die Individuen und die Massen, wer für die soziale Gemeinschaft und die souveräne Nation gegen die USA mobilisiert, der kalkuliert das Ende Israels und den Tod der Juden ein. Für die einheimische jüdische Gemeinde in Porto Alegre bedeutete schon die Abhaltung des Weltsozialforums eine bedrohliche Situation mit militantem Aufmarsch vor der örtlichen Synagoge; Shimon Samuels vom Simon Wiesenthal Center rief den Bürgermeister auf, etwas gegen die Invasion des Antisemitismus in der brasilianischen Stadt zu unternehmen. Auf den diversen Informations- und Verkaufsständen wurden nicht nur antiisraelische T-Shirts, sondern auch Propagandabroschüren zu den Selbstmordattentaten vertrieben.

Gegen den »ungerechten Tausch« hilft nur der gerechte Tod, gegen die Globalisierung des Tausches nur die Vernichtungsanstrengung des Selbstmordattentats. Es ist, wie Baudrillard sagt, die »geheime Botschaft«: »der unmögliche Tausch des Todes, die Herausforderung an das System durch die symbolische Gabe des Todes«. Und der französische Intellektuelle berauscht sich daran, das System durch diese Gabe herauszufordern, »der es nicht gerecht werden kann, außer durch den eigenen Tod und seinen eigenen Zusammenbruch«; während der deutsche sich beeilt, die Apologie des Selbstmordattentats, die Ted Honderich geliefert hat (»diejenigen, die sich selbst für die Sache ihres Volkes getötet haben, haben sich in der Tat selbst gerechtfertigt« dem Suhrkamp Verlag zu empfehlen.

Das Deutsche Sozialforum aber tagt längst im Auswärtigen Amt in Berlin. Der Unterschied ist eine gewisse Diskretion der Diplomatie: Joseph Fischer tritt als angesehener Freund Israels auf und die deutsche Außenpolitik toleriert die Hamas oder, wenn es nicht mehr opportun erscheint, wenigstens die mit ihr verbundenen sozialen Organisationen, ergreift jedenfalls offen für Arafat Partei. Die »Eckpunkte einer deutschen Nahost-Politik« vom August 2001 lesen sich wie ein früher Entwurf zum Weltsozialforum: »Die Unterstützung der palästinensischen Staatswerdung ist prioritär.«

Das Einverständnis mit der bürgerlichen Gesellschaft, das sich seiner nicht bewusst werden darf, ist immer das gefährlichste, und der Zwang zu projizieren ist der innere Antrieb der neuen Mobilisierung. Die Projektionsflächen gehören dabei zum alteuropäischen Traditionsbestand. Der Schriftsteller Nikolaus Lenau, der erste große »Amerikamüde«, schrieb bereits im 19. Jahrhundert aus Übersee: Was hier geschaffen werde, sei nicht »eine von innen organisch hervorgegangene«, sondern eine von außen gewaltsam und rapid herbeigebrachte ›bodenlose‹ Kultur: »Was wir Vaterland benennen, ist hier bloß eine Vermögensassekuranz. Der Amerikaner kennt nichts, er sucht nichts als Geld; er hat keine Idee; folglich ist der Staat kein geistiges und sittliches Institut (Vaterland), sondern nur eine materielle Konvention.« Wie Lenau jedoch im Postskriptum desselben Briefs mitteilt, war es gerade der eigentliche Zweck seines Amerikaaufenthalts, die Vermögensassekuranz bestmöglich zu nützen und sein Geld in der Neuen Welt gewinnbringend und sicher anzulegen.

In moralischen Kategorien ausgedrückt: Europa ist der Inbegriff der Heuchelei. Politik, die heute gegen die USA im europäischen Namen gemacht wird – und sei’s im Sinne des ›kleineren Übels‹ –, erinnert eben nicht zufällig an das Verhältnis des christlichen Abendlands zu den Juden: Man macht sie für all das Schlechte verantwortlich, woraus man selbst den größten Nutzen zieht.

Europa suggeriert – ideologiekritisch gesprochen – einen Standpunkt außerhalb der Konflikte, oberhalb der Interessen einzunehmen: im Himmel. Wirklich gibt es diesen Standpunkt aber nur als deutschen – als einen, der, wenn die Krise so weit ist, das Ganze gewaltsam durchsetzt; der die Vernichtung um ihrer selbst willen betreibt.

Wenn also Europa die Lokomotive sein soll, dann ist die Revolution – wie schon Walter Benjamin gegen die Marxsche Metapher einwandte – »der Griff nach der Notbremse«.