ND eins, tazzwei

in die presse

»Ungewöhnlich. Sonst stimulieren nur Protestthemen wie Frieden und Atomkraft so sehr die Massen«, rätselst du, enigmatische taz, nachdem am 1. November hunderttausend Menschen gegen die Politik deiner Regierung demonstrierten. Vielleicht hast du ja bei deinem lang anhaltenden Jubel über die Agenda 2010 schlicht vergessen, dich mal umzusehen.

Plötzlich scheinst auch du stimuliert zu sein und nennst Sozialabbau, was doch eigentlich Reformen sind. Kürzlich beklagtest du noch die »fatale Mentalität des Aufschiebens«, weil der Bundeskanzler »beim Reizthema Rente mit 67 kneift«, jetzt musst du plötzlich feststellen, dass »Rot-Grün versucht, die Gegenargumente zu überhören«. Seit wann gibt es in deinem grünen Universum denn Gegenargumente? Oder spricht da die tazzwei?

Schau, das Neue Deutschland steht von vornherein an der Seite der Protestierenden, wenn sie sich nicht gerade gegen die Politik einer Regierung wenden, in der die PDS das Sozialsystem »nachjustiert«. Über die Berliner Demonstranten steht im ND: »Sie alle sind nicht bereit, sich der größten, noch dazu selbst verursachten Niederlage der Sozialdemokratie kampflos zu ergeben.«

Worin immer auch die Niederlage der Sozialdemokraten bestehen soll, sich ihr auch noch kampflos zu ergeben, das ist nun wirklich tiefer als tief, schwärzer als schwarz, nein, so weit darf es nicht kommen. Und tatsächlich, das Ergebnis macht Mut: »Die Protestler zeigten nicht nur den Regierenden, sondern auch denen, die an diesem Tag zu Hause geblieben sind, wer in der Demokratie immer noch ein Wörtchen mitzureden hat: das Volk.« Ihr da oben, ND völlig daneben. Um mit Bertolt Brecht zu fragen: Wenn dir, widerständigem ND, und dem Volk die Regierung nicht gefällt, warum wählt ihr euch dann keine andere? Für eine Mehrheit müsste es ja reichen.

stefan wirner