Weiter, immer weiter

Mit Richard Grant durch den amerikanischen Westen. von maik söhler

Wohnst du noch, oder lebst du schon?« Sollte ihnen dieser Werbeslogan von Ikea als ernsthafte Frage gestellt werden, so antworteten wohl die meisten der in Richard Grants »Ghost Riders« versammelten Personen einhellig: »Ich lebe schon, weil ich nicht mehr wohne.«

Denn bei allen sonstigen Unterschieden haben sie eines gemeinsam: Sie sind nicht sesshaft. Und was sie bei Ikea überhaupt interessieren könnte, müsste in die Jackentaschen, in einen Rucksack, in ein Auto oder allenfalls in ein Wohnmobil passen.

In dem Reiseessay »Ghost Riders« finden sich diverse Tramper, Fernfahrer, Hippies, Wanderarbeiter sowie Abenteurer und Aussteiger aller Art, aber auch harmlose Rentner. Grant spricht von rastlosen Ruheständlern, von einer »Massenbewegung des Lebensabends auf Rädern«, die den überwiegenden Teil der amerikanischen Nomaden ausmachen. »›The Good Sam Club‹, Amerikas größte Organisation von Wohnwagenbesitzern, schätzt, dass drei Millionen Leute das ganze Jahr über in ihren Wohnmobilen leben. 80 Prozent von ihnen sind Ruheständler.«

Wir begegnen Reverend Dale Billings und seinem Wohnmobilanhänger mit dem Schriftzug »Erlösung auf Rädern – Sünder willkommen« ebenso wie sturztrunkenen Rodeoreitern auf der Suche nach neuen Einkünften oder den Freight Train Riders of America, Reisenden also, die jeden fahrenden Frachtzug entern, um von hier nach dort zu kommen.

Für die meisten gilt, was Grant im Vorwort über sich selbst schreibt: »Fünfundzwanzig Dollar pro Tag für Lebensmittel, Bier, Zigaretten und Benzin, und ich war glücklich.« Einige sind, wie Grant schreibt, »gestörte Einzelgänger und Leute auf der Suche nach dem Vergessen, die zum Rest der Menschheit so wenig Kontakt wie möglich haben wollen.«

Andere genießen das Zusammensein beim so genannten Rendezvous, größeren Zusammenkünften von Leuten, die das Cowboy-, Indianer- oder Trapperdasein früherer Zeiten imitieren. Oder bei Rainbow-Treffen, einer Art »Landkommune auf Rädern« samt autarker Essens-, Getränke- und Drogenversorgung. Als irgendwie gestört erscheinen alle, aber nicht gestörter als der Rest der Menschheit.

Grant ist einer von ihnen. In der Psychologie werden sie Dromomanen oder Drapetomanen genannt, Menschen mit einem »krankhaften« Bewegungstrieb oder solche, die den Drang wegzulaufen nicht unterdrücken können. Natürlich sind es sesshafte Psychologen, die solche Kategorien erfinden, schreibt Grant. Um weiterhin unterwegs sein zu können, verkauft er seine Reisegeschichten an Zeitungen und Zeitschriften. »Wenn mir die Kohle langsam ausging, fand sich immer eine Story, die aufgeschrieben und weggeschickt werden konnte.«

Das war nicht immer so. In seinem früheren Leben war er ein normaler Brite, studierte, verliebte sich, führte Beziehungen, war arbeitslos und lebte in einer Wohnsiedlung in London. »Jene gemeindeeigene Wohnung lag zwischen einem Gaswerk und einer sechsspurigen Autobahn, im Ödland von Bromley-by-Bow. Grauer Schimmel wucherte an den Wänden meines ungeheizten Schlafzimmers; in der Wohnung unter mir hauste ein Alkoholiker, der ständig seine Frau verprügelte. Im Fernseher keifte Margaret Thatcher.«

Das reichte. »Es gab nur einen Fluchtweg: Amerika. Für mich war es das genaue Gegenteil von England: ein weites, sonniges Land, frei und ungebunden, und es bestand nicht die geringste Ähnlichkeit mit einem alten, vertrockneten Teebeutel.« Genauer: Es ist der Westen der USA, der Grant anzieht, alles was zwischen Wyoming (im Norden), der mexikanischen Grenze (im Süden), Oklahoma (im mittleren Westen) und der kalifornischen Pazifikküste liegt.

Hier dominiert in vielen Gebieten die Trockenheit, sie »formt Geografie, Fauna und Flora und setzt dem kapitalistischen Prinzip des unaufhörlichen Wachstums Grenzen.« Soll heißen, hier finden sich Berge und Wüsten, in die gleichermaßen der Misanthrop, die Rentnergang und der spiritistische, aber auch der politische Aussteiger fliehen können.

Wer dabei mobil bleibt, dem kann kaum etwas passieren. »Wenn man sich an einem Platz festsetzt, sich aber weigert, Steuern zu bezahlen, und Straftaten riskiert, wird der Staat früher oder später zuschlagen. Solange man in Bewegung ist, sich auflöst und neu formiert, fällt den Machtorganen die Überwachung schwer.«

Grant zählt sich selbst zu einer bestimmten Art von Europäern, die es seit geraumer Zeit nach Amerika verschlagen hat. »Die heftige Unruhe und das Gefühl der Unzugehörigkeit, die zu einem gewissen Grade alle Emigranten begleiten, kamen hier in Berührung mit einer überwältigenden räumlichen Weite, dem Versprechen unbegrenzter Möglichkeiten und mit einer Kultur der Mobilität, die auf die Indianer zurückging.«

Sind Grants Ausflüge mit nicht Sesshaften in der Gegenwart schon unterhaltsam und aufschlussreich, so gehören seine Passagen zur Vergangenheit des amerikanischen Nomadentums zum Besten, was die moderne Reiseliteratur derzeit zu bieten hat (obwohl er nach den gängigen Kriterien ein Sachbuch geschrieben hat). Erst in seinem gründlichen und luziden Rückblick erklärt sich, was es für viele in den USA bedeutet, unterwegs zu sein, und was die Ikonografie des Westerns sowie die Alltagsgeschichte der Indianer damit zu tun haben.

»Die Comanchen, so wird behauptet, stiegen selbst für einen Weg von 100 Metern aufs Pferd, genauso wie ein Amerikaner heute für die gleiche Strecke das Auto benutzt«, schreibt Grant und zieht eine Traditionslinie zwischen Menschen, die sich nicht nur nie begegnet sind, sondern deren überwiegender Teil auf beiden Seiten bis heute jede Gemeinsamkeit bestreitet.

John Fire Lame Deer, ein Medizinmann der Sioux, wird von ihm mit den Worten zitiert: »Dafür, dass ihr uns das Pferd gebracht habt, können wir euch fast verzeihen, dass ihr uns auch den Whiskey gebracht habt.« Grant verweist damit zugleich auf die Kolonialgeschichte der Spanier, die mittels Pferdeexport so manche Indianerstämme erst mobil machten, wie auch auf die Ähnlichkeiten zwischen einstigen Gegnern.

Denn trotz mancher Gefechte hätten Cowboys und Indianer mehr Gemeinsames als Trennendes, da beide Gruppen moderne Nomaden und ihre Hauptfeinde die Siedler, Rancher und der entstehende Staat gewesen seien.

Auch seien beide Gruppen ihn ähnlicher Weise diffamiert worden. Anfänglich benutzten die Sesshaften die Bezeichnung Cowboy »als ein Schimpfwort für die neuen Nomaden, jene gesetzlosen, wurzellosen, bedrohlichen und verrufenen Gestalten, denen kein Platz in der anständigen Gesellschaft zustand«. Und über nomadische Indianer hieß es gleichzeitig: »In Zeitungen, Lebenserinnerungen und Predigten wurden die Comanchen mit Heuschrecken, Wölfen und der Pest verglichen, mit Tataren, Mongolen, Hunnen, Vandalen und den rachsüchtigen Reitern aus dem Buch Jeremia.«

»Ghost Riders« hätte eine nette und abgrundtief peinliche Veröffentlichung werden können, weil die plumpe Identifikation des Autors mit seinem Personal fast immer Kitsch hervorbringt. Aber indem er gegenüber allem und jedem kritisch bleibt, ist Richard Grant mit seinem kleinen Buch ein großer Wurf gelungen. Esoterische Indianerfreunde sollten es jedenfalls nicht lesen. »Merkwürdig genug sind es oft pazifistische Vegetarier, die die längst toten fleischliebenden Krieger inbrünstig verehren.«

Und auch wer einfach nur beruflich viel unterwegs ist und sich deswegen ein dissidentes Image geben möchte, wird nach der Lektüre enttäuscht sein. Denn für Grant ist »der wahre Nomade ein armer Nomade«.

Richard Grant: Ghost Riders. Reisen mit amerikanischen Nomaden. Aus dem Amerikanischen von Norbert Hofmann. Edition Tiamat, Berlin 2003, 336 Seiten, 20 Euro