Antipolitische Revoluzzer

Linke Asten, radikale Gruppen und eine unpolitische Mehrheit – die gegenwärtige Studierendenbewegung ist äußerst heterogen. von daniél kretschmar

Es gab Straßenblockaden in Marburg, eine Besetzung der CDU-Geschäftsstelle in Gießen, Proteste in Hamburg und Frankfurt am Main, Besetzungen von Senatorenbüros in Berlin. Die Studierendenproteste weiten sich aus. Niemand aber kann schlüssig erklären, warum Studierende immer wieder im Herbst auf die Straße gehen. Denn Anlass zu Protesten gab es eigentlich auch schon im Sommer zur Genüge.

Die beinahe schon traditionelle Unberechenbarkeit des Protestpotenzials an den Hochschulen macht nicht nur Außenstehenden zu schaffen. Auch die studentischen Vertretungen und die vielen politischen Gruppen, von den Hochschulleitungen ganz abgesehen, wurden in diesem Jahr wieder von den stetig größer werdenden Demonstrationen überrascht.

In den verschiedenen Städten zeigen sich dabei starke Übereinstimmungen in den Erscheinungsformen und Inhalten des Protestes, und auch die Reaktionen und Beteiligungen der Asten gleichen sich zwischen Berlin und Frankfurt am Main oft bis ins Detail.

Während die Versuche der Studierendenvertretungen, ihr »Fußvolk« für die Kürzungspolitik an den Hochschulen zu sensibilisieren und Proteste zu organisieren, teilweise über Jahre hinweg nur schwache Reaktionen hervorriefen, laufen die Asten und Fachschaften jetzt dem spontanen Protest einer insgesamt schlecht informierten Masse hinterher. Die unterbesetzten Organe der Studierendenschaft müssen in der Ausnahmesituation eines Hochschulstreiks das hochschulpolitische Informationsdefizit der Studierenden wenigstens halbwegs ausgleichen und den KommilitonInnen mit Rat und Tat zur Seite stehen. Gleichzeitig müssen die Vertretungen mit den Hochschulleitungen im Gespräch bleiben und in Verhandlungen mit der offiziellen Politik treten. Zeit für die eigene politische Arbeit bleibt da keine mehr.

Und der größere Teil der Studierenden scheint davon auch nicht enttäuscht zu sein. Ganz im Gegenteil, ein Mitglied des Asta der FH Köln berichtet von Vollversammlungen, auf denen Redebeiträge, die über das gewohnte Standortgetöne à la »Wir sind Deutschlands Zukunft. Spart woanders!« hinausgehen, nur mit Mühe zu Ende gebracht werden konnten. Bestenfalls wird mit solchen Beiträgen ein müdes Gähnen provoziert, aber auch offene Konflikte sind nicht auszuschließen.

So konnte am vergangenen Samstag bei einer Demonstration in Berlin die Polizei beinahe amüsiert einen Streit zwischen den TrägerInnen zweier Leittransparente beobachten, der fast zu einer körperlichen Auseinandersetzung geführt hätte. Die offizielle Visitenkarte der Demonstration war mit dem üblichen Appell an die etablierte Politik beschriftet, während eine als Sozialrevolutionärer Block auftretende Gruppe kurzerhand ein Transparent davorsetzte, das zum Kampf gegen die Hartz-Gesetze und die Agenda 2010 aufrief. Über eine Stunde und mit steigender Aggressivität versuchten die Veranstalter, sich gegen die Vereinnahmung durch die »notorischen Krawallmacher«, wie es hieß, zur Wehr zu setzen.

Auf die Frage, warum eine kleine politische Gruppe bereit sei, sich in diesen Konflikt zu begeben, antwortete eine Aktivistin des Sozialrevolutionären Blocks: »Das ist eine Chance, die Politisierung der Studierenden voranzutreiben.« Diese Aufgabe stellen sich momentan offenbar verschiedene Gruppen und Einzelpersonen.

So tauchen in den besetzten Hochschulen immer mehr Flugblätter auf, die zu einer Solidarisierung mit sozial benachteiligten Gruppen aufrufen. In den Diskussionsrunden und bei Aktionen werden Stimmen laut, die einer politischen Radikalisierung der Proteste das Wort reden. Die Protestformen werden ebenfalls radikaler, was gerade die wiederholten Besetzungen verschiedener Partei- und Regierungseinrichtungen in Berlin zeigen. In der vorigen Woche wurden vorübergehend das Büro des Kultursenators Thomas Flierl (PDS), die Zentrale der PDS im Karl-Liebknecht-Haus und das Büro des Finanzsenators Thilo Sarrazin (SPD) besetzt. Letzteres wurde von der Polizei geräumt.

Andererseits zeigte die Demonstration in Berlin am vorigen Samstag, dass zumindest ein Teil der Studierendenschaft nicht nur unpolitische Gleichgültigkeit übt, sondern durchaus antipolitisch zu handeln bereit ist. Linke Asten und lose politische Zusammenhänge im Hochschulumfeld beobachten übereinstimmend eine Tendenz zur Polarisierung der Studierenden. Gruppen wie der Sozialrevolutionäre Block werten das als Fortschritt, gelingt es ihnen doch so, vom Mainstream abweichende Meinungen in die Diskussion einzubringen und offensiv zu vertreten.

Die Situation der Studierendenvertretungen ist anders gelagert, da die Interessen der Mehrheit der Studierenden, die sie zu vertreten haben, nicht selten den eigenen politischen Wünschen widersprechen. Dieser Konflikt, der in Zeiten des Alltagsgeschäftes eine geringere Rolle spielt, tritt in Streikzeiten offen zu Tage. Häufig agieren in den Streik- und Vertretungsorganen dieselben Personen, was die einzelnen nicht nur physisch überlastet, sondern auch zu Kompromissen zwingt, die sie an die Grenzen des für sie politisch Zulässigen bringen.

Der Widerspruch zwischen dem politischem Anspruch und der gesetzlichen Aufgabe führt dazu, dass die Asten bisweilen von der Mehrheit der Studierenden als radikale Spinner und vom eigenen politischen Umfeld als Verräter an den programmatischen Grundsätzen bezeichnet werden.

Trotzdem oder auch gerade deswegen sind sich die Asten mit den unabhängigen linken Gruppen einig, dass die Proteste und insbesondere die Streiks und Besetzungen unbedingt fortgesetzt werden müssen. Schließlich öffneten sie Räume, in denen Minderheitenmeinungen die sonst verwehrte Aufmerksamkeit bekommen könnten.

Die steigende Aktivität der Protestierenden, gepaart mit einer immer wieder überraschenden politischen Naivität, macht es für Kräfte linker und linksradikaler Herkunft schwer, Einfluss zu gewinnen. Die Kombination aus dem Legalitäts- und dem Medienfetischismus vieler Streikender erleichtert nur bedingt die Arbeit der Gruppen, die direkte Aktionen anstreben, um politische Forderungen an die Öffentlichkeit zu bringen.

Von Vorteil könnte aber sein, dass verschiedene hochschulferne Initiativen und Organisationen, wie etwa die Gewerkschaften, nicht nur Solidaritätsadressen an die studentischen Vollversammlungen schicken, sondern sich auch vermehrt den Protesten anschließen. Das Bündnis der Studierenden mit anderen gesellschaftlichen Gruppen könnte noch Realität werden. Es ist die Frage, ob die Versuche, die Studierendenbewegung zu politisieren, für dieses Mal bereits zu spät kommen oder ob sie den Protesten doch noch eine neue politische Qualität geben können.