Im Kern geht’s voran

Während die Verfassungsdebatte scheitert, ist die militärische Integration der EU auf dem Vormarsch. von thomas may

Der Gipfel in Brüssel hat gute Chancen, als historisches Debakel in die Geschichte der EU einzugehen. Doch bei dem anhaltenden Jammern über das klägliche Scheitern der Verfassungsdebatte wird leicht übersehen, dass der Gipfel auch eine wegweisende Entscheidung getroffen hat.

Bereits zu Beginn des Treffens am vergangenen Freitag hatten sich die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union darauf geeinigt, dass die Union erstmals in ihrer Geschichte unabhängig von der Nato militärische Einsätze planen und führen kann. Die bereits bestehende EU-Planungszelle im militärischen Nato-Hauptquartier soll demnach zu einer permanenten Einrichtung werden. Insbesondere die USA hatten sich bislang gegen eine eigenständige Führungseinheit der EU gewehrt. Das Thema war monatelang heftig umstritten und führte fast zu einem Zerwürfnis in der Nato.

Europa müsse »eine strategische Kultur früher, schneller und wo nötig robuster Interventionen entwickeln«, heißt es in dem gleichzeitig in Brüssel verabschiedeten Strategiepapier für eine gemeinsame Sicherheitspolitik. Die neue europäische Eingreiftruppe, die ab 2007 bereitstehen soll, kann demnach aktiv werden, wenn die Nato selbst nicht intervenieren will oder sich nicht auf einen gemeinsamen Einsatz einigen kann. Die Militäroperationen der EU sollen dabei zunächst in den bereits bestehenden nationalen Planungsstäben in Potsdam, Paris und London koordiniert werden. Dies war bereits beim EU-Einsatz in Kongo im Sommer der Fall, der unter französischer Führung stand.

Die Einigung ist vor allem für den deutschen Bundeskanzler Gerhard Schröder und den französischen Staatspräsidenten Jacques Chirac ein voller Erfolg. Gemeinsam mit Luxemburg und Belgien hatten sie sich im vergangenen April in Brüssel auf eine autonome Militärstrategie der EU verständigt und ein unabhängiges Hauptquartier gefordert. Das Treffen wurde damals als »Pralinengipfel« belächelt. Doch nach der gescheiterten Debatte um den gemeinsamen Verfassungsentwurf könnte der Pralinengipfel nun sogar als Modell für die weitere Entwicklung der EU dienen.

So drohte Schröder am vergangenen Samstag in Brüssel, dass die Bundesregierung notfalls bereit sei, nur mit einigen Ländern wie Frankreich und Großbritannien die Zusammenarbeit zu verstärken. »Dann werden die Länder, die mehr Integration wollen, über diesen Weg nachdenken«, erklärte er. Auch Luxemburg schlug vor, dass die Gründungsmitglieder der Gemeinschaft ohne die anderen Länder über das weitere Vorgehen in Europa beraten sollen.

Gut möglich also, dass das »Europa der zwei Geschwindigkeiten«, vor dem Bundesaußenminister Joseph Fischer noch vergangene Woche gewarnt hat, ausgerechnet im militärischen Bereich zustande kommt. Insbesondere die Bundesregierung hat sich in der jüngsten Vergangenheit gegen den Widerstand der osteuropäischen Beitrittsländer vehement für eine eigenständige europäische Militärplanung eingesetzt. Tatsächlich wird Deutschland mit 18 000 Mann das größte nationale Kontingent der 80 000 Soldaten umfassenden europäischen Eingreiftruppe stellen.

Auch in einer anderen wichtigen Frage drängt die Bundesregierung auf eine schnellere Integration. Denn eine eigenständige europäische Militärmacht benötigt nicht nur eine autonome Führung, sondern vor allem auch eine gemeinschaftlich koordinierte Rüstung. In dem Verfassungsentwurf war daher auch die Schaffung einer Europäischen Rüstungsagentur (EVA) vorgesehen. Dabei handelt es sich um ein Projekt, das Bundeskanzler Schröder bereits auf dem EU-Gipfel in Thessaloniki im Juni dieses Jahres vorgestellt hat.

Dass die Vorbereitungen dafür auf Hochtouren laufen, zeigte der zweite »Congress on European Defence« in Berlin, der unter der Schirmherrschaft des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI) nur wenige Tage vor dem EU-Gipfel stattfand.

Nach einem eher leisen ersten Auftritt vor zwei Jahren in Bad Godesberg, der parallel zur damaligen Afghanistan-Konferenz stattfand, ist die Bedeutung der Konferenz mittlerweile deutlich gestiegen. So nahmen unter anderem Bundesverteidigungsminister Peter Struck und der CDU–Fraktionsvize Wolfgang Schäuble daran teil. Ab dem kommenden Jahr soll das Treffen unter dem Titel »Berliner Sicherheitskonferenz« über die Bühne gehen. Die Verwandtschaft zur jährlichen Münchner Nato-Sicherheitskonferenz ist evident – mit dem Unterschied, dass in Berlin nur Vertreter von EU-Staaten beteiligt sind.

Die »Wege Europas hin zu einer eigenen Verteidigungsidentität«, wie das Motto des Kongresses lautete, zeigte dabei unmissverständlich an, wohin die Reise gehen soll. Denn nach Meinung von Verteidigungsminister Struck kann die »Friedensmacht Europa« nicht »alleine als Zivilmacht zum starken demokratischen Partner Amerika« aufschließen. Dafür müsse sie vielmehr ihre militärischen Potenziale erheblich steigern.

In diesem Sinne argumentierte auch der BDI-Präsident Michael Rogowski auf der Berliner Konferenz. Bei einem gemeinschaftlichen Wehrbudget von immerhin 50 Prozent (160 Milliarden Euro) des Etats des Pentagon, so Rogowski, erreichen die EU-Staaten nur zehn Prozent der tatsächlichen Kapazitäten der USA. Dieses Missverhältnis müsse beseitigt werden. Und dies könne nur gelingen, wenn die einzelnen Staaten ihre Rüstungsanstregungen endlich gemeinsam organisierten.

Der deutsche Verteidigungsminister fühlte sich angesichts der bornierten Egoismen, mit denen die verschiedenen europäischen Nationen und nationalen Heeresteile bislang um ihre Ausrüstung konkurrieren, sogar in seine Kindheit zurückversetzt: »Der hat eine Schaufel, ich will auch eine. So geht’s nicht. Wir sind hier nicht im Sandkasten«, klagte Struck. Schließlich sei das gemeinsame Interesse aller EU-Staaten die Befähigung zu autonomen europäischen Militäreinsätzen.

»Die EU wird zwar auch zur Führung einer großen Operation mit einem Jahr Durchhaltefähigkeit in der Lage sein müssen«, erklärte Struck weiter. »Sie wird aber insbesondere mehrere mittlere und kleinere, auch lang andauernde Einsätze, die eher wahrscheinlich sind, zu bewältigen haben.« Dazu sollen die entscheidenden Anschaffungen innerhalb der EU in fünfzehn unterschiedlichen Segmenten der Kriegsführung koordiniert werden.

Bei einem potenziellen Volumen von 160 Milliarden Euro im Jahr ist es kein Wunder, dass die angestrebte Harmonisierung der ehemals unter nationalstaatlicher Monopolstellung abgewickelten Rüstung große Begehrlichkeiten weckt. Die wichtigsten deutschen und europäischen Rüstungsunternehmen sowie das Konsortium EADS stellten im Ausstellungssaal des Gebäudes des BDI ihre innovativen Produkte vor.

Einige der ehrgeizigsten Projekte sind unter maßgeblicher deutscher Beteilung bereits in der Entwicklung. So will die EU bis 2007 das Satellitensystem Galileo einführen. Mit der militärisch nutzbaren Technik können Marschflugkörper und lasergesteuerte Bomben eingesetzt werden. Ganz global – und völlig unabhängig vom »Partner« Amerika.