Der 49-Cent-Sender

Die Pro Sieben Sat.1 Media AG lässt Harald Schmidt gehen, interessiert sich jedoch für den Anruf-Kanal Neun Live. von martin schwarz

Da steht Eva nun vor ihrem Wurlitzer im Neun Live-Studio. Blond, schön, leicht überfordert. Die Hände hält sie so, als wäre sie Stewardess und müsste gerade die Anwendung der unter dem Sitz befindlichen Schwimmwesten erklären. Panik in den Augen und perfekt lächelnd. Doch Eva sagt nur: »Da drück’ ich die Daumen.« Und weil der Wurlitzer nicht so funktioniert, wie er funktionieren sollte, sagt Eva einfach noch mal: »Da drück’ ich die Daumen.« Dem Wurlitzer im Hintergrund ist das egal. »Und ich drück’ noch immer die Daumen«, sagt Eva. Endlich spielt der Wurlitzer ein Lied. Es ist das falsche. Der Kandidat am Telefon knackt doch nicht den 9 500-Euro-Jackpot, muss sich mit 3 500 Euro begnügen. Immerhin. Der Mann hat Glück gehabt. 49 Cent hat er in den Anruf investiert.

Zumindest im letzten Quartal 2002 wählten nach Angaben von Neun Live etwa 57 Millionen Menschen eine der kostenpflichtigen 01379-Nummern, die der Sender für seine Quizshows anbietet. Eine Cash Cow, ohne Zweifel. Denn meist muss der Anrufer seine Nummer auf einem Anrufbeantworter hinterlassen, ein Zufallsgenerator wählt dann aus, wer von den virtuellen Karteileichen zurückgerufen und ins Studio durchgeschaltet wird, um die jeweilige Frage zu beantworten. Auf diese Weise hat Neun Live, das Phoenix der Gewinnspielsendungen, zumindest im Jahr 2002 einen Gewinn von 12,06 Millionen Euro erzielen können.

Das Konzept ist schlicht genial. Meist junge, unerfahrene und entsprechend kostengünstige Moderatoren, ein sendetechnischer Aufwand wie beim Offenen Kanal, und dennoch Tausende zahlende Zuseher. Da sind selbst die Quoten mehr oder minder egal, denn Neun Live strebt nicht nach Millionen passiver Fernsehpassanten, die teilnahmslos herumzappen, sich mal amüsieren und mal langweilen, sondern nach jenen, die auch schon mal dutzende Male anrufen, um die Chance zu erhalten, ein paar tausend Euro zu gewinnen. Acht Millionen Euro immerhin hat der Sender im ersten Jahr seines Bestehens ausgeschüttet. Toll.

Im Sommer dieses Jahres bekam der Sender mal leichte juristische Probleme, weil offensichtlich neidische Reporter der ARD aufgedeckt hatten, dass die Telefonrechnung auch mit 49 Cent pro Anruf belastet wird, wenn man gar nicht auf dem Anrufbeantworter landet, sondern mit einem Besetztzeichen malträtiert wird. Ein Ausrutscher, sagt Neun Live. Das sei bei einer konkreten Sendung passiert. Also kann Deutschlands »erster Quizsender« weitermachen wie bisher.

Jetzt ist sogar der US-Tycoon Haim Saban auf den Quizsender aufmerksam geworden. Im Sommer hat er die Pro Sieben Sat.1 Media AG gekauft und sucht nun im Sendergeflecht mit den teilweise roten Bilanzen nach neuen Cash Cows. Nach Informationen der Süddeutschen Zeitung hat er jetzt Interesse daran, eine Mehrheitsbeteiligung an Neun Live zu erwerben. Bisher ist die Pro Sieben Sat.1 Media AG mit nur 48,4 Prozent an dem 49-Cent-Konzern beteiligt. Weitere 48,6 Prozent gehören dem US-Medienmagnaten Barry Diller und drei Prozent der Senderchefin Christiane zu Salm. Wenn nun Diller seinen Anteil am schwer profitablen Neun Live-Imperium nicht abstoßen möchte, will er eben Christiane zu Salms drei Prozent kaufen. Was jedoch auch nicht so leicht werden könnte. Denn Salm sprüht vor Ideen, wie man den Gewinn von Neun Live noch erhöhen könnte: »Von der Strategie entwickeln wir uns zu einem Mini-Telekomunternehmen mit angeschlossenem TV-Sender«, sagt sie der Financial Times Deutschland. Stimmt. Denn das fade 0,49 Euro-Produktportfolio soll bald um noch mehr Angebote ergänzt werden. Stammseher etwa sollen dann per kostenpflichtiger SMS-Message darüber informiert werden, dass es jetzt, genau jetzt, total sinnvoll sei, bei Neun Live anzurufen und einen halben Euro loszuwerden. Auch solle man bei Neun Live über politische Fragen abstimmen können. Das ist etwas, was der Nachrichtensimulationssender n-tv schon mit seiner »Frage des Tages« auf einfache Weise vormacht. Da mischt sich politischer Anspruch mit gewieftem Geschäftssinn.

Ganz an das Erfolgsgeheimnis – anrufen, anrufen, anrufen – angepasst ist auch das Gehaltsschema der Moderatoren. Je mehr Modernisierungsverlierer und verzweifelte Arbeitslose die junge Eva oder die nicht mehr ganz so junge Anna anrufen, desto mehr verdienen die junge Eva und die nicht mehr ganz so junge Anna. Der Moderator wird damit nicht zum Gesicht des Senders, sondern zum Verkäufer. Total klasse macht das etwa die Anna am Samstagnachmittag. Die Spiele ihrer Sendung sind in diesem Zusammenhang irrelevant, interessant aber ist ihr Kundengekeile. Sie nennt ihre männlichen Anrufer vor allem »Süßer« und verstrickt sich in leicht erotische Dialoge mit dem Team im Studio: »Ah, da ist mein süßer Schotte«, wendet sie sich etwa zu einer offensichtlich hinter der Kamera tätigen Fachkraft. »Arbeitest du zu Weihnachten? Ziehst du dann deinen Schottenrock an?«, sagt Anna, thematisch in den Genitalbereich abdriftend, um zum großen Pointenschlag auszuholen: »Dann seh’ ich mir mal die Glocken an.« Da will man zusehen, da will man mitmachen, da will man anrufen.

Auch Prominenz konnte Neun Live verpflichten, um die Telefonleitungen glühen zu lassen: Jörg Draeger und sein kesser Schnurrbart, beide lange bei Kabel 1 als Glücksraddreher verpflichtet, moderieren nun bei Neun Live wöchentlich eine Quizshow. Über Draeger steht ziemlich Verstörendes auf der Website von Neun Live. Er baute für die Bundeswehr einen Radiosender auf und lernte als Student in Berlin in den sechziger Jahren Rudi Dutschke kennen. Jörg, der Kommunarde. Jetzt ist er von seinem neuen Sender überzeugt, wie er es früher wohl nur von Dutschke war: »Das interaktive Fernsehen ist mit Sicherheit das, was das Fernsehen die nächsten 20, 30 Jahre dominieren wird.«

Ebenfalls verpflichtet wurde eine junge Frau, die man gleich nach Ende der zweiten Big-Brother-Staffel fast schon wieder vergessen hatte. Alida Kurras animiert die Zuschauer in ihren Sendungen »Quizzo« und »Planet 9« zum Anrufen. Eigentlich wären laut Website eine Talkshow oder ein eigenes Lifestyle-Magazin ihr Traum, doch »vorläufig lässt ihr Neun Live für solche Träumereien keine Zeit«. Schade. Da muss ein Millennium-Talent wie die Kurras sich die sensible Seele aus dem Leib reden, damit irgendwer mit ihr ein telefonisches Spiel macht, und dabei würde sie doch so gerne Harald Schmidt beerben. Ungerecht kann die Fernsehwelt sein. Vielleicht aber bleibt der ehemaligen Jura-Studentin ja der Trost, mal eine mögliche neue Polit-Umfrage-Sendung moderieren zu dürfen: »So, hallo, wo also liegt im Reformpaket der Bundesregierung der Fehler? Der Gewinner erhält den Jackpot von 1,5 Milliarden Euro.«

Übrigens: Wenn Eva, Anna, Jörg und Alida schlafen, und das tun sie immer nachts, dann ist das aus dem Frauensender tm 3 hervorgegangene Neun Live nicht faul und dient als Plattform für Telefonnummern, die mindestens so teuer wie die Teilnahme an den Gewinnspielen selbst sind. Aber das, was sie versprechen, ist wesentlich schlüpfriger noch als Annas Flirt mit dem Schotten hinter der Kamera.