Der Mann ohne Distanz

Karl Corino hat einen Ziegelstein von Biografie über Robert Musil verfasst. Aber der Autor ist ein wenig zu sehr Fan. von jörg sundermeier

Ich war 17, als ich Robert Musils umfangreichen, nicht vollendeten Roman »Der Mann ohne Eigenschaften« las. Ich fand den Titel interessant. Das Buch fand ich großartig. Und ich verstand wenig. Ich verstand dafür Dinge, die gar nicht in dem Buch standen. Die Eigenschaftslosigkeit, den Möglichkeitssinn, die Geschwisterliebe, von all dem las ich, und es verdrehte mir den Kopf. Ich war berauscht, wie zuvor schon von den »Verwirrungen des Zöglings Törleß«. Dieser Rausch hatte etwas Seltsames zur Folge. Ähnlich wie pubertierende Jungs O-beinig und mit merkwürdig steifem Gang aus dem Kino kommen, in dem sie eben einen Western gesehen haben, identifizierte ich mich ein paar Wochen lang mit dem »Mann ohne Eigenschaften«. Ich verwechselte mich also mit einer Romanfigur. Irgendwann musste ich merken, dass das nicht geht, doch eine große Liebe zu dem Roman und seinen Figuren blieb. Die nötige Distanz, die es braucht, um ein Kunstwerk einschätzen zu können, hatte ich erst viele Jahre später.

Infolge meiner Liebesaufwallungen jedenfalls sparte ich Geld und kaufte alles, was es von Robert Musil zu kaufen gab. So auch, 22jährig, Karl Corinos Buch »Robert Musil. Leben und Werk in Bildern und Texten«. In diesem Buch wird auf über 400 Seiten und mithilfe von Hunderten von Fotos das Leben von Robert Musil gezeigt. Man sieht den jungen Musil, einen hübschen Mann, eitel, narzisstisch, geradlinig, mit Augen, die selbst auf den alten Schwarzweißfotos einnehmen können. Der junge Musil, ein recht kleiner Mann übrigens, scheint auf einigen Fotos die Kamera und den Fotografen genau zu beobachten und hat zugleich einen warmen Blick. Später dann sieht man einen früh gealterten Mann, elegant noch immer, doch für einen Sportler ziemlich steif und im Gesicht von Krankheiten und Schreibhemmungen gezeichnet. Nur der wache Blick ist ihm geblieben. Das Leben selbst, nicht nur die Umstände, unter denen der notorisch verarmte, weil auf einen gewissen Lebensstil nicht verzichten könnende Musil lebte, war ihm unangenehm geworden. Der Mensch Musil versuchte, sich in Literatur aufzulösen.

In dem schönen Bilderbuch entdeckte ich allerdings auch etwas Merkwürdiges: Corinos unendliche, ja fast manische Sammelwut. Er präsentiert beispielsweise Fotos von möglichen Vorbildern für Romanfiguren, illustriert also gewissermaßen das Werk Musils. Es war offensichtlich, dass dieses Buch die Vorarbeiten für eine Musil-Biografie darstellt und das Material erstmals ordnet.

Bei der nun erschienenen und bereits viel gelobten Biografie »Robert Musil« geht Corino in gleicher Weise vor. Auf über 2 000 Seiten – allein die Fußnoten umfassen rund 400 Seiten – wird das Leben Musils en detail dargestellt. Dieses Buch ist auf jeden Fall eine Biografie ohnegleichen, allenfalls der Joyce- und Oscar Wilde-Biograf Richard Ellmann dürfte mit einer ähnlichen Akribie vorgegangen sein.

So lesen wir denn also von Musils Zeit in den österreichischen Kadettenanstalten, deren eine er in seinem Tagebuch tatsächlich als das »Arschloch des Teufels« bezeichnete, wir erfahren, wo und wie Musil wohnte, als er als »monsieur le vivisecteur« auftrat, lesen von seinen ersten literarischen Gehversuchen, lernen seine Freunde Johannes von Allesch und Gustav Donath kennen, die sich später im »Mann ohne Eigenschaften« parodiert finden konnten, lesen von Musils zum Teil entsetzlichen Schreibhemmungen, von seinen ewigen Geldsorgen, seiner merkwürdigen Zuneigung zum Sozialismus, der allerdings keine Taten folgten, oder von der großen Liebe zu seiner Frau Martha. Ebenso ist zu erfahren, dass Musil sich bereits in seiner Adoleszenz mit der Lues infizierte und bis zu seinem Lebensende eine große Angst verspürte, dass die Syphilis bei ihm doch noch ausbrechen würde.

Zugleich lernt man Musil als arroganten Offizierstyp kennen, der einen gewissen Hang zur Herrenreiterei hatte, die er gleichzeitig verachtete, man liest viel von Musils Kälte und Unsicherheit anderen Menschen gegenüber, von seinem Genauigkeitswillen und seiner frühen, fast unbändigen romantischen Sehnsucht, die sich der Ingenieur und Genauigkeitsfanatiker Musil nicht leisten und die er daher gleichsam mit dem Zirkel ausmessen wollte. Und es zeigt sich wieder einmal, dass Menschen, die versuchen, sich in Text aufzulösen, zu einer außerordentlichen Verachtung ihrer Mitmenschen neigen. Musil betrachtete die Biografien selbst seiner engsten Freunde in einer Weise als Material, das er ohne Scham benutzen könne.

Schließlich ist dann noch der besessene Arbeiter Musil zu sehen, der von seinen eigenen Texten immer wieder neu abschrieb und diese veränderte, von einigen Kapiteln des »Manns ohne Eigenschaften« gibt es dutzende Versionen. Ernst Rowohlt, der Verleger Musils, der ihn nach eigener Aussage »abgöttisch« liebte und ihn über Jahre allein für die Aussicht finanzierte, bald einen, nein, den Roman drucken zu können, berichtet: »Er brachte immer, wenn er (…) kam, neue Fassungen mit; die waren aber meistens durcheinander geraten, und da wurde man immer sehr verwirrt. Das war sehr nervenanstrengend, auch für mich.«

Doch einmal abgesehen von solchen wunderhübschen Schnurren, erfahren wir von Corino nicht, warum »Der Mann ohne Eigenschaften«, obschon unvollendet und über lange Strecken auch fast ohne Handlung, ein so bedeutender und viel gerühmter Roman geworden ist. Der Germanist Corino unterschlägt die wesentlichen Thesen dieses Romanwerkes oder auch der anderen Werke nicht, allerdings funkt ihm ständig der Journalist Corino dazwischen. Diesem Teil von Corinos Persönlichkeit ist es offensichtlich darum zu tun, das gesamte Material darzulegen, das er über Jahrzehnte gesammelt hat. So kommt es zu manchmal sehr unangenehmen Momenten bei der Lektüre der Biografie. Etwa wenn Corino behauptet, dass eine Romanfigur einer realen Figur nicht nur entspreche, sondern sie sogar »ist«. Vielfach nimmt er, als ob nicht jeder Schriftsteller zu Verklärung und Abstraktion gleichermaßen neigt, Stellen aus Musils fiktionalen Texten als konkrete Beschreibung einer Situation oder einer Person. Musil jedoch neigte dazu, das Material, dass ihm die Biografien seiner Bekannten boten, distanziert zu betrachten und nach seinem Gusto umzuformen.

Des Weiteren hat Corino, auch hier wird es der Journalist in ihm sein, eine etwas sehr auffällige Neigung, an hundert Jahre alter Bettwäsche zu schnüffeln, so etwa wenn er seufzt, dass Ea von Allesch, die vielen Wiener Schriftstellern das Herz gebrochen hat, leider nicht ihre Memoiren geschrieben habe.

Das Problem Corinos wird dem eingangs beschriebenen ähnlich sein: Bereits als junger Mann, mit Anfang Zwanzig, hat Corino den Musilschen Nachlass in Rom katalogisiert, er wird damals vermutlich Feuer und Flamme für den Autor gewesen sein. Damals schon begann er damit, Zeitzeugen zu befragen und Dokumente zu studieren, in dieser Biografie stecken also rund vier Jahrzehnte Arbeit. Doch Corino hat die Distanz zu seinem Objekt verloren oder aber nie aufbauen können. Nicht dass er Musils schlechte Eigenschaften unterschlägt, nur ist alles überstrahlt von einer, nun ja, Fan-Haltung. Daher ist diese Biografie auch angereichert mit manchmal etwas langwierigen, nicht selten unnötigen Exkursen. Der Fan hat die Manie des Stars übernommen, allerdings auf niedrigerem Niveau. So ist ein Buch herausgekommen, das durchaus unterhält. Doch auf eine gewisse Weise wird es dem, den es zu beschreiben vorgibt, nicht gerecht.

Karl Corino: Robert Musil. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2003, 2 026 S., 78 Euro