Die Macht des Priesters

In Haiti wird es eng für Präsident Jean-Bertrand Aristide. Proteste und Gewalt lähmen das Land. von hans-ulrich dillmann, santo domingo

Knapp zwei Wochen vor den Feierlichkeiten zur 200jährigen Unabhängigkeit befindet sich Haiti am Rande eines Bürgerkrieges. Studentendemonstrationen in der Hauptstadt Port-au-Prince fordern den Rücktritt des Staatspräsidenten Jean-Bertrand Aristide. In Gonaïves herrscht die bewaffnete Widerstandsfront Anti-Aristide. Im Zentralhochland operiert seit Monaten eine Guerillagruppe aus früheren Armeeangehörigen. Und zwei führende Vertreter der Regierungspartei Fanmi Lavalas (Familie Lavalas) haben deren Mitglieder aufgerufen, »mit der Waffe in der Hand« die Regierung Aristide zu verteidigen und seine vollständige Amtszeit zu garantieren.

Seit Tagen gleichen sich die Bilder: In den Vormittagsstunden versammeln sich Studenten vor und auf dem Gelände der Universität. Auf Transparenten fordern sie mehr »Demokratie« und den Rücktritt von Aristide. Kaum hat sich die Gruppe zu einer Demonstration formiert, wird sie von Regierungsanhängern angegriffen. Mit Knüppeln und Steinen, manchmal sogar mit Schusswaffen versuchen sie, die Oppositionellen auseinander zu treiben; die »Schimären« genannten Anhänger von Aristides Fanmi Lavalas sind für ihre Brutalität berüchtigt. Dann tauchen Polizisten in Kampfanzügen auf. Auch sie halten ihre Waffen, mit denen sie Tränengas verschießen, vornehmlich auf die Studenten gerichtet.

Zugespitzt hat sich die Situation in der Hauptstadt des ärmsten lateinamerikanischen Landes vor knapp drei Wochen, als Studenten der sozialwissenschaftlichen Fakultät eine Reform der Universitätsausbildung, eine Demokratisierung des Landes und ein Ende der Verfolgung von Regierungsgegnern forderten. Mit ungewöhnlicher Brutalität wurden die Studenten angegriffen, als sie sich dem Präsidentenpalast im Stadtzentrum von Port-au-Prince näherten. Dutzende wurden dabei verletzt. In der vorletzten Woche eskalierte dann die Auseinandersetzung. Nach Informationen des der Opposition nahe stehenden Rundfunksenders Radio Metropole wurden acht Studenten durch Schüsse verletzt.

Das Oppositionsbündnis Convergence Democratique und die Gruppe der 184, ein Bündnis aus Nichtregierungsorganisationen, reagierten auf die Ausschreitungen gegen die Demonstranten mit einem eintägigen Generalstreik, der die Hauptstadt am Dienstag vergangener Woche fast vollständig paralysierte. Es sei die »letzte Chance« für Aristide, einen demokratischen Weg einzuschlagen, sagte der Koordinator der Gruppe der 184, der Unternehmer André Apaid Junior.

Gleichzeitig trat die Erziehungsministerin von Haiti, Marie Carmel Paul-Austin, aus Protest gegen die gewaltsame Unterdrückung der Studentendemonstrationen von ihrem Amt zurück. Sie bezeichnete das Verhalten der zur Lavalas gehörenden Volksorganisationen, Organisations Populaires (OP), als »Horror«. Auch Gesundheitsminister Pierre Emile Charles reichte seine Demission wegen der »barbarischen Akte gegen die Universitätsgemeinschaft« ein. Ein enger Vertrauter der früheren Erziehungsministerin, der haitianische Botschafter in der Dominikanischen Republik, Guy Alexandre, legte sein Amt nieder. Das Verhalten der Regierung sei mit seinen Prinzipien nicht mehr vereinbar, betonte er in seinem Rücktrittsschreiben, von dem Radio Metropole Kenntnis bekam. Das Land befinde sich in einer »selbstmörderischen Konfrontation«.

In die Schar der Regierungsvertreter, auf die Staatspräsident Aristide verzichten muss, hat sich auch der ehemalige Polizeichef und einst starke Mann der Fanmi Lavalas, Dany Toussaint, eingereiht. Nach Meldungen von Nachrichtenagenturen soll das einflussreiche Mitglied des haitianischen Senats die Regierung von Aristide als ein Regime bezeichnet haben, das sich von einem »despotischen« zu einem »kreolisch-faschistischen« entwickelt habe. Die Äußerung von Toussaint ist nicht ohne Pikanterie, denn seit Jahren steht der frühere Polizeikommissar in der Kritik. Oppositionsgruppen und Menschenrechtsorganisationen werfen ihm vor, Banden zu finanzieren und für Morde an Gegnern Aristides, darunter auch Journalisten, verantwortlich zu sein.

Journalisten waren auch während der gegenwärtigen Unruhen wiederholt Zielscheibe von Angriffen von Lavalas-Unterstützern. Reporter seien bedroht und verfolgt worden, als sie von den Demonstrationen in Port-au-Prince berichten wollten, meldete Radio Metropole. Die Radiostationen Radio Carabes, Radio Metropole, Vision 2000 und Radio Kiskeya in der Hauptstadt Port-au-Prince stellten am vorletzten Donnerstag vorübergehend ihre Sendungen ein, nachdem die Redaktionsräume von Radio Carabes aus einem Auto heraus beschossen worden waren. Der Inhaber der Rundfunkstation machte Unterstützer des ehemaligen Armenpriesters Aristide für die Schüsse verantwortlich.

Während in fast allen größeren Städten des Landes Proteste gegen die Lavalas-Regierung stattfanden und die Forderung nach einem Rücktritt Aristides immer lauter wird, scheint dieser von dem Aufruhr im Land wenig beeindruckt. Auf einer Pressekonferenz im Regierungspalast, vor dem zum Teil bewaffnete Lavalas-Mitglieder ihre Solidarität mit ihm demonstrierten, distanzierte sich der frühere Salesianer-Priester zwar von den gewaltsamen Ausschreitungen. Den seit Jahren von der Opposition geforderten Rücktritt, mit dem der Weg für Neuwahlen frei gemacht würde, lehnte er jedoch ab. Er werde seine Amtszeit, wie es die Verfassung vorsehe, erst am 7. Februar 2006 beenden, sagte Aristide.

In etwa einer Woche will der umstrittene Staatspräsident in der Hafenstadt Gonaïves der haitianischen Unabhängigkeit gedenken. Vor 200 Jahren, am 1. Januar 1804, wurde dort die erste freie Republik auf der Insel Hispaniola ausgerufen. Die schwarze Bevölkerungsmehrheit aus ehemaligen Sklaven hatte die französischen Kolonialherren in die Flucht geschlagen.

Ob Aristide allerdings zu den Feierlichkeiten reisen wird, ist derzeit mehr als fraglich. Die 160 Kilometer von Port-au-Prince entfernte Stadt gleicht einem Pulverfass. Auch hier kommt es fast täglich zu Demonstrationen. Die Widerstandsfront Anti-Aristide aus Gonaïves, die sich heute als Speerspitze des Widerstandes versteht, trug früher den Namen Armée Cannibale. Seit ihr Chef, Amiot Métayer, Ende September erschossen aufgefunden wurde, ist die Provinzhauptstadt eine rechtsfreie Zone. Die Widerstandsfront hat bereits gedroht, sie werde es verhindern, dass Staatspräsident Aristide zur angekündigten Befreiungsfeier einen Fuß in die Provinzhauptstadt setzt.