Herders Hefe

Eine Warnung vor dem Vorkoster der Weimarer Klassik aus Anlass seines 200. Todestags. von stefan ripplinger

Von selbst sind die Barbaren nicht darauf gekommen, sich eines Tages »Deutsche« und ihre Barbarei »Humanität« zu nennen. Zwei Erzideologen waren ihnen dabei behilflich, und was diese beiden ausstreuten, wurde zur Hefe des nationalen Selbstbewusstseins; Martin Luther, der ihnen die Verkehrssprache gab und einen gemeinsamen Feind, den Juden, und Johann Gottfried Herder, der ihnen einflüsterte, ihre »Dumpfheit und Verlegenheit« sei ihr ganzer Stolz, ihre Tölpelei Tiefe und ihre Ehre Treue.

Von Anfang an sieht Herder seinen Beruf darin, Mores zu lehren. Das erste veröffentlichte Gedicht des gerade 17jährigen preist die Thronbesteigung des aufgeklärten Zaren Peters III., der 25jährige Theologe macht Vorschläge für eine »livländische Vaterlandsschule« und für Reformen im russischen Reich, der Weimarer Generalsuperintendent redet seinen Herren, seiner Gemeinde und seinem Volk ins Gewissen. Nur bleiben seine Eingaben, Vorschläge und Denkschriften zu Lebzeiten ohne Erfolg. Aber wenn dem Parvenu die ersehnte Rolle eines Praeceptor Slaviae, später Germaniae auch nicht vergönnt ist, darf er doch, mit Nietzsche, als der »Vorkoster aller geistigen Gerichte« gelten, »die sich die Deutschen in einem halben Jahrhundert aus allen Welt- und Zeitreichen zusammenholten«. Sowohl Goethe, die Stürmer und Dränger als auch Jean Paul, die Patrioten von Väterchen Gleim bis Messias Klopstock und die Romantiker sitzen bei ihm zu Tisch, und noch Hegel wärmt den Herderschen »Weltgeist« auf.

Es ist für dieses Werk, das man sich als einen dünn ausgerollten Teig vorstellen muss, bezeichnend, dass ein jeder sich sein Stück davon abschneiden kann; Nationalisten und Nazis, die bei ihm den »deutsch-germanischen Geist auf sich selbst« kommen sehen, ebensowohl wie DDR-Philologen, die einen Revolutionär und einen Vordenker der nationalen Einheit in ihm begrüßen, und neuerdings auch Sozialdemokraten, die den Sonderweg und die Ethnopolitik dieses »klassischen Multikulti-Denkers« (Deutschlandradio) zu schätzen wissen. Die Hefe, die den Teig auftreibt, ist die allen Konfessionen und Kasten gemeine Deutschtümelei.

Arno Schmidts Herderbekenntnis dagegen scheint mit dem Umstand verknüpft, dass das Leben des Verehrten, »wie kein zweites, ein Schriftstellerleben« ist; »man erzählt von seinen Thaten, wenn man von seinen Schriften erzählt« (Rudolf Haym). Weniger, dass er ein fleißiger Deutscher, mehr, dass er ein deutscher Fleißiger ist, dürfte Schmidt beeindruckt haben, der sich in puncto Fleiß von niemandem, vor allem von niedersächsischen Viehbauern nicht, übertreffen lässt. Wie Schmidt schreibt Herder – und wie jener nicht nur freiwillig – sehr viel, aber wer prüfte, was er denn schreibt, müsste zu dem Schluss kommen: immer das Gleiche.

Ohne Zahl etwa die Traktate und Fragmente, in denen Herder darlegt, bei allen Verdiensten, die die alten Juden, die alten Griechen und die neueren Franzosen auf dem Felde der Dichtung im Besonderen und auf dem der Kultur im Allgemeinen erworben hätten, solle der Deutsche sie doch nicht »charakterlos nachahmen«. Er schreibt es, als er, gerade 20, die Großkritiker Lessing, Mendelssohn und Klotz verbessert, er schreibt es noch immer, als er, alt und verbittert, im Zeichen der Rachegöttin Adrastea ficht. Er schreibt es mal konziliant, und er schreibt es mal krude. Aber er schreibt immer dasselbe: Die »Philosophie der Französischen Sprache hindert die Philosophie der Gedanken« (»Sämmtliche Werke«, hg. v. B. Suphan, Berlin 1877ff.). Westlich des Rheins das »Französische Nichts«, östlich die treue Pflanze, die »am Boden klebt«; so urteilt er 1769. Vier Jahre später drückt er dieses Missverhältnis noch etwas deutlicher aus: Die französische Kunst »ist ohne Natur, ist abentheuerlich, ist eckel!« Dabei bleibt er auch 1778: »Nach zehn französischen Büchern ein deutsches zu durchlaufen, mit matter, verdauungsloser Seele es zu durchträumen, durchnaschen, durchjähnen; sodenn zu jenen zehn hinstellen und abermals nach den neuesten Modebissen schnappen – ist das Dichterlektüre? was kann sie nützen? wer mag für sie dichten? wer in den Armen einer verwelkten Buhlerin liegen, und ihr gar Sitten geben wollen?« Und auch 1795: »Soll jede Kunst und Thätigkeit, durch welche mancher dem Vaterlande gern zu Hülfe kommen möchte, sich erst wie jener verlohrne Sohn ausserhalb Landes vermiethen, und die Frucht seines Fleisses oder Geistes einer fremden Hand anvertrauen, damit ihr solche von da aus empfangen die Ehre haben möget? Mich dünkt, ich sehe eine Zeit kommen –«

Die nicht zu Ende geraunte Drohung erfüllt sich 1870/71, wenn auch Herder die »Gallicomanie« nicht mit Mörsern und Granaten, sondern mit dem Zauber »altdeutscher Druiden«, mit den Oden alter und neuer Barden, niederringen will. Die Franzosen wie die Griechen sittenlose Völker, die Juden weder dem Alten Testament geistig gewachsen noch bereit, ihres zu machen, und die Deutschen zwar die einzigen Erfinder und Begründer Europas, aber noch nicht selbstbewusst genug, sich zu ihren rauen Ahnen zu bekennen – das die verzweifelte Lage, vor die er sich gestellt sieht und gegen die er sich Zeit seines Lebens auflehnt.

Kein Schriftsteller hat so viel über Dichtung geschrieben und dabei so wenig für sie übrig gehabt. »Sprache ist nur Kanal«, das ist scheußlich wie Medientheorie und zukunftsweisend wie diese. An Kunst und Sprache interessiert Herder ausschließlich ihre »würkende Kraft«, die dem Leser, der die Grenzen Deutschlands im Geiste schon einmal überschritten hat, als eine würgende erscheinen muss. Denn diese Ästhetik fordert nicht nur, dass der Dichter ein Lehrer seines Volkes sei, sondern auch, dass er seine Stoffe diesem Volk, seinen Sitten, seiner Geschichte entnimmt. Unter dem regnerischen Himmel des Nordens sollen die mittelmeerischen Götter und die französischen Feinheiten nichts mehr gelten. Zurück zu den Germanen! In den Wald!

Darüber kommt es zum Streit mit Schiller, der erst einige Aufsätze Herders für Die Horen dankbar angenommen hat, schließlich aber doch den Braten riecht: »Gibt man Ihnen die Voraussetzung zu, daß die Poesie aus dem Leben, aus der Zeit, aus dem Wirklichen hervorgehen, damit eins ausmachen und darein zurückfließen muß und (in unseren Umständen) kann, so haben Sie gewonnen; denn da ist alsdann nicht zu läugnen, daß die Verwandtschaft dieser Nordischen Gebilde (die Herder in seiner ›Iduna‹ zu Idolen einer ›Nationalmythologie‹ erheben will; S.R.) mit unserem Germanischen Geiste für jene entscheiden muß. Aber gerade jene Voraussetzung läugne ich. Es läßt sich, wie ich denke, beweisen, daß unser Denken und Treiben, unser bürgerliches, politisches, religiöses, wissenschaftliches Leben und Wirken wie die Prosa der Poesie entgegengesetzt ist. Diese Übermacht der Prosa in dem Ganzen unseres Zustandes ist, meines Bedünkens, so groß und so entschieden, daß der poetische Geist, anstatt darüber Meister zu werden, nothwendig davon angesteckt und also zu Grunde gerichtet werden müßte. Daher weiß ich für den poetischen Genius kein Heil, als daß er sich aus dem Gebiet der wirklichen Welt zurückzieht und anstatt jener Coalition, die ihm gefährlich sein würde, auf die strengste Separation sein Bestreben richtet. Daher scheint es mir gerade ein Gewinn für ihn zu sein, daß er seine eigne Welt formiret und durch die Griechischen Mythen der Verwandte eines fernen, fremden und idealischen Zeitalters bleibt, da ihn die Wirklichkeit nur beschmutzen würde.« (Brief vom 4. November 1795) Selten hat sich ein deutscher Klassiker so klassisch gezeigt.

Schillers Vornehmheit muss in Deutschland untergehen, Herders Zeit aber ist noch nicht gekommen. Es versteht sich, dass einer, der Kunst und Kultur politisch und völkisch auffasst, mit seinen ästhetischen Postulaten immer politische, völkische meint; seine völkische Politik aber greift späteren Zeiten vor. »Deutschland schlummerst Du noch? Siehe, was rings um Dich, / Was Dir selber geschah. Fühl’ es, ermuntre Dich, / Eh die Schärfe des Siegers / Dir mit Hohne den Scheitel blößt!! // (…) Soll dein Name verwehn? Willst Du zertheilet auch / Knien vor Fremden? Und ist keiner der Väter Dir, / Dir dein eigenes Herz nicht, / Deine Sprache nicht alles werth? // Sprich, mit welcher? o sprich, welcher begehrtest Du / Sie zu tauschen? Dein Herz, soll es des Gallier, / Des Cosacken, Kalmucken / Pulsschlag fröhnen? Ermuntre Dich. // (…) Wirf die lähmende Deutschheit / Weg, und sei ein Germanien!«

Sozialistische Anhänger Herders, die solchen Nationalismus gern fortschrittlich erscheinen ließen, verweisen auf seine angebliche Sympathie für die Große Revolution. Es gibt tatsächlich zweideutige Bemerkungen in Briefen und unterdrückten Artikeln des unterbezahlten und verdrossenen Oberhofpredigers, aber er bleibt, wie sein Lehrer und Gegenspieler Kant, ein bekennender Friderizianer und Lutheraner, der den Frieden unter dem bösen Tyrannen dem Bürgerkrieg des bösen Pöbels vorzieht.

Seine bürgerlichen Anhänger verweisen auf Herders »Humanität«. Doch der Begriff soll sich gerade nicht aus der Ethik der »Ebräer und anderer Asiaten«, also nicht aus dem Alten Testament, herleiten, sondern die »Erkenntniß unsrer Kräfte und Anlagen, unsres Berufes und unsrer Pflicht« bezeichnen. Der Mensch »constituiret sich selbst; er constituirt mit andern ihm Gleichgesinnten nach heiligen, unverbrüchlichen Gesetzen eine Gesellschaft.«

Bevor also der deutsche Mensch Weltbürger werden kann, muss er erst einmal Deutscher werden. »Denn sagen Sie, was hindert uns Deutsche, uns allesammt als Mitarbeiter an Einem Bau der Humanität anzuerkennen, zu ehren, und einander zu helfen? Haben wir nicht alle Eine Sprache? ein gemeinschaftliches Intereße? Eine Vernunft? Ein und dasselbe menschliche Herz?« So sieht er die humanitären Deutschen vor einem »Altar der Biedertreue« (gemeint ist eine, seine Schrift) zusammenströmen. Humanität ist bei ihm ein völkisches Konzept, auch wenn er für die ideale Zukunft, in der, wie es ihm gebührt, der »Deutsche Namen, den jetzt viele Nationen gering zu halten sich anmaßen«, als »der erste Name Europa’s« erscheint, »ohne Geräusch, ohne Anmaßung, nur in sich selbst stark, vest und groß«, eine Versöhnung der Völker, betrieben und befördert von der »unsichtbaren Kirche« der Gelehrten, in Aussicht stellt.

Dagegen gibt es für die ebenfalls häufig vorgetragene Behauptung, Herder sei trotz seiner Gefühlsphilosophie Teil der Aufklärung, viele Gründe. Sein Pseudospinozismus, seine Vernunftreligion, sein Patriotismus, auch sein Antisemitismus sind Ferment des protestantischen Gebräus der Zeit, und Kants hochnäsige Kritik seiner »Ideen« greift schon deshalb daneben, weil er an ihnen eine Teleologie der Natur kritisiert, die er, wenn auch subtiler, selbst bedient. Herder wird nicht gelesen, aber doch begriffen, heute besser noch als vor 200 Jahren.

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Die Biographie von Michael Zaremba, der sich außer mit Herder auch mit Karl May und mit Billy Jenkins, dem »Cowboy von Reinickendorf«, befasst hat, also ein Fachmann für Hochstapler ist, krankt daran, dass er sich anders als Rudolf Haym (»Herder«, 2 Bde., Berlin 1880/85) nicht auf das Denken, sondern auf das Leben konzentriert. Das Denken mag eintönig sein, mit dem Leben verglichen ist es ein Thriller. Zu melden sind Geldsorgen, Zahnschmerzen, erneute Geldsorgen, und z.B. dieses: »Herder hatte sich ein Leiden zugezogen, das bereits seinen Vorgänger Abbt plagte und woran nicht wenige Prediger und Konsistorialräte litten: erweiterte Mastdarmkrampfadern, auch Hämorrhoiden genannt. Da bei meist sitzender Tätigkeit der Druck in dem arterien- und venenreichen Gesäßgeflecht unter der Rektumschleimhaut erhöht ist, galt die Erkrankung einst als ›Zierde‹ der Gelehrten; Komplikationen sind vor allem Blutungen oder Thrombosen mit sehr schmerzhaften Entzündungen. Herder beschloss in Pyrmont zu kuren, um die arteriovenösen Schwellkörper loszuwerden. Im Juli 1772 ließ er sich erstmals von den Eisen- und Solbädern des Weserberglandes verwöhnen. Während der Kur erhielt er ein Schreiben von Goethe: ›Sein Brief hat mich im Walde u. Garten der Brunnenkur sehr in die Höhe gehoben‹« usw.

Ansonsten geht es einsam zu. Früh, »Herder lebte in Riga mit schweren seelischen Rissen«, spät, »Mehrfach wurde ein Besuch Hamanns in Weimar erwogen, aber zu dieser Reise kam es nie. Hingegen trat Lessing die ewige Reise an, denn er starb, erst zweiundfünfzigjährig, im Februar 1781 – ein tiefer Schock für die Gelehrtenwelt«, und kurz vor dem Exitus noch immer, als es so »einsam um den Oberkonsistorialpräsidenten geworden (war), dass Caroline den altersschwachen Gleim anflehte, ihren Mann nicht ebenfalls zu verlassen«.

Zarembas Buch ist nicht so gut geschrieben wie Klappentext, FAZ und NZZ meinen, aber immer noch besser als seine Dissertation »Johann Gottfried Herders humanitäres Nations- und Volksverständnis. Ein Beitrag zur politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland« (Berlin 1985), die dafür aufschlussreich ist: »Herder weist darauf hin, daß für die jüdische Geschichte die Zerstreuung und Verbreitung des Volkes in alle Winkel der Erde eigentümlich ist, ohne daß sie ein eigenes Staatsgebiet besäßen. Den ›großen Anlagen‹ der Hebräer gesellen sich negative Eigenschaften hinzu, welche durch ihr Leben in der Diaspora gefördert werden: So ›fürchteten sie das Meer und wohnten von jeher lieber unter anderen Nationen; ein Zug ihres Nationalcharakters, gegen den schon Moses mit Macht kämpfte‹. Herder folgert, das Fehlen eigenen Bodens habe eine politische Kultur verhindert: ›Kurz, es ist ein Volk, das in der Erziehung verdarb, weil es nie zur Reife einer politischen Cultur auf eigenem Boden, mithin auch nicht zum wahren Gefühl der Ehre und Freiheit gelangte.‹ Herder antizipiert hier übrigens Gedanken, die Theodor Herzl gut hundert Jahre später in seiner Schrift ›Der Judenstaat‹ (1896) formulierte.«

Ohne Boden keine politische Kultur, ohne politische Kultur keine Freiheit und Ehre. Die Empfehlungen für Deutschland, die Zaremba dem Werk Herders, dieses »Linksaußen der Weimarer Klassik«, abliest, fallen entsprechend aus: Die deutschen Staaten sollen sich »ständig davor hüten, ihre Identität den Alliierten aufzuopfern. Eine Voraussetzung dafür ist beispielsweise die reservierte Haltung gegenüber Anglizismen und westlicher Massenkultur wie auch gegenüber Russifizierung.« Erstaunt es da, dass »politische Kultur« auf deutschem Boden wohl, nicht aber beim Volk der Hebräer, dieser »parasitischen Pflanze auf den Stämmen anderer Nationen« (Herder), gedeihen kann?

Michael Zaremba: Johann Gottfried Herder. Prediger der Humanität. Eine Biografie. Böhlau Verlag, Köln, Weimar, Wien 2002, 269 S., 24,90 Euro