Lust auf die Nation

Über den Nationalismus als Produktivkraft in der Krise. von felix klopotek

Die Ereignisse der vergangenen Monate bieten genug Stoff für eine Debatte über den Nationalismus: der Diskurs über die deutsche Selbstversöhnung und den Bombenkrieg, über die Vergewaltigungen nach Kriegsende und die Vertreibung; die Rede Martin Hohmanns und die Reaktionen darauf; schließlich das Auftauchen eines Pop- oder Lifestyle-Nationalismus, vom Erfolg des Films »Das Wunder von Bern« bis zum Fall der Band Mia.

Die Frage, was diese unterschiedlichen Phänomene gemeinsam haben und was ihnen zugrunde liegt, blieb in der Kritik bislang ausgespart, weil sie als zu disparat erscheinen. Oder die Kritik wird auf den einfachsten Nenner gebracht, da äußere sich mal wieder das deutsche (Un-) Wesen. Nationalismus ist aber kein überhistorisches Kontinuum. In den disparaten Erscheinungen und dem, was sie verbindet, äußert sich eine spezifische Dynamik.

Nationalismus der neunziger Jahre

Um dieser Dynamik auf die Spur zu kommen, lohnt es sich, zehn Jahre zurückzublicken, auf eine kurze Phase, in der der deutsche Nationalismus tatsächlich intensiv diskutiert wurde. In den frühen neunziger Jahren war Nationalismus ein Problem – nicht nur für die Opfer rassistischer und rechtsextremer Gewalt im wiedervereinigten Deutschland, sondern auch für den gesellschaftlichen Mainstream.

Nationalismus verbot sich für ihn aus zwei Gründen. Zum einen stand Deutschland unmittelbar nach der Wiedervereinigung unter verstärkter Beobachtung, nach den Pogromen von Rostock und Hoyerswerda drohte das Projekt der »gewachsenen Verantwortung«, gefährdet zu werden. Auch drohte der Mob, die beanspruchte außenpolitische Kompetenz, etwa in Form von Auslandseinsätzen der Bundeswehr, zu untergraben. Zum anderen hatte kaum ein Westdeutscher ein persönliches Interesse an seinen Brüdern und Schwestern im Osten. Die Nation als verschworene Gemeinschaft? Als eine, die dem feindlichen Ausland erbittert die Stirn bieten muss? Blut, Schweiß und Tränen? Nicht im ausklingenden goldenen Zeitalter des Fordismus!

Es gab nicht nur einen militanten Protest der Antifa gegen Neonazis und Rassisten, sondern auch ein empörtes Bürgertum. Damals kursierte ein Aufkleber, den sich viele Liberale und Tolerante auf ihr Auto klebten und der heute vergessen ist. Dieser Aufkleber vereinigt in nuce die Elemente des Nationalismus, wie er sich heute durchgesetzt hat. Er enthält in Form eines persönlichen Appells an den Bürger eine Aufzählung: »Die Musik, die du hörst, ist englisch. Das Essen, das du kaufst, ist türkisch. Die Zahlen, die du verwendest, sind arabisch. Die Demokratie, in der du lebst, ist griechisch.« Man ahnt, worauf es hinausläuft, der letzte Satz lautet: »Und du bist bloß stolz darauf, Deutscher zu sein!« Die Bedeutung der Pointe ist offensichtlich: Man ist doch schon längst kosmopolitisch, das soll alles aufgegeben werden? Nationalisten müssen schrecklich dumme Menschen sein.

Die linke Kritik konzentrierte sich darauf, in solchen Dokumenten des Antinationalismus wiederum nationalistische und rassistische Elemente zu suchen: Werden so nicht die Menschen nach Rentabilitätskriterien sortiert? Liegt diesem weltläufigen Schema nicht eine fatale Politik der Identifizierung zugrunde? Was ist mit den Menschen, von denen wir nichts haben? Keine Musik, kein Essen, keine Zahlen. An denen darf man sein Deutsch-Sein ausagieren?

Diese Kritik ist nicht falsch, aber verkürzt. Sie teilt mit den Liberalen durchaus den gleichen Schluss: Nationalismus sei regressiv. Bis heute hält sich die Annahme, Nationalismus, insbesondere der deutsche, zeichne sich durch seine Lust- und Genussfeindlichkeit, durch eine phobische Ablehnung von Luxus und »Künstlichkeit« aus. Dies ist falsch, denn die zweite Pointe, die dem Aufkleber zugrunde liegt, lautet: Ich kann mir das alles leisten, weil ich Deutscher bin. Weil ich Deutscher bin, habe ich das Geld, erlesene Speisen aus der Türkei und Italien zu kaufen; weil ich Deutscher bin, verfüge ich über die Bildung, die es mir erlaubt, englischsprachige Popsongs zu verstehen und mich der arabischen Zahlen so zu bedienen, dass am Ende meine Kalkulationen immer stimmen.

Lust auf die Neue Mitte

Es gibt einen lustbetonten, hedonistischen und weltoffenen Nationalismus. Der Bürger als Nationalist erlebt die Differenz (zum Ausländer, zu anderen Nationen, zu »Andersartigen«) als Bereicherung, er genießt sie. Und zwar deshalb, weil er »die Anderen« unter Kontrolle hat, dank der überlegenen Staatsmacht im Rücken und der überlegenen Geldmacht in der Tasche. Der Staat hält dem Bürger wirklich den Rücken frei, indem er die Zugangskriterien zur deutschen Wohlstandsgesellschaft regelt, indem er etwa die Grenzen schließt oder die Homo-Ehe erlaubt, und die harte Währung erweist sich als perfektes Instrument zur Aneignung fremder Dinge.

Es war dieser Nationalismus, der sich Anfang der neunziger Jahre durchsetzte und der 1998 in den Konstrukten der Neuen Mitte und der Berliner Republik zu sich selbst kam. Helmut Kohl stand immer für den potenziellen Rückfall, für die bizarre provinzielle Szene in Nordhessen und anderswo, aus der etwa Martin Hohmann gekrochen ist. Gerhard Schröder und Joschka Fischer sind, wie reformistisch und realpolitisch auch immer, »unsere Leute«, urban und zivilisiert. Ihnen blieb es in den vergangenen fünf Jahren überlassen, den Differenz-Nationalismus zu radikalisieren.

Es ist falsch, die Neue Mitte nur mit dem kurzfristigen Hype um die Börse und das Internet in Verbindung zu bringen. Der harte Kern dieses Begriffes, Versprechen und Strategie, Verheißung und Realpolitik in einem, ist die Verbindung der politischen Liberalität mit ökonomischer Flexibilität. Demokratie bedeutet Deregulierung bedeutet Selbstverwaltung.

Die Herrschaft des Staates über seine Untertanen tarnt sich als individuelle Autonomie. Je mehr der Staat von außen abgebaut wird, was nicht heißt, dass er zu verschwinden gedenkt, desto mehr rüstet sich das bürgerliche Individuum zu einem kleinen Staatsapparat. Dazu passt, dass alljährlich der kreuzbrave Soziologe Wilhelm Heitmeyer Ergebnisse einer Langzeitstudie veröffentlicht, die dokumentiert, dass unter Deutschen die »gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit« zunehme.

Das ist kein Widerspruch zur politischen Liberalisierung und zum Ideal der Zivilgesellschaft. Die wenigsten, denen Heitmeyer Menschenfeindlichkeit attestiert, würden für eine faschistische Diktatur plädieren. Vielmehr nehmen sie auf ihrer sozialen Mikroebene die Ein- und Ausschlüsse vor, die auf der Makroebene der Staat vollzieht. Jeder Ausschluss bedeutet einen Einschluss, nahezu alles lässt sich in dieses Raster eintragen. Neue Mitte ist gleich Demokratisierung plus Neoliberalismus.

Und die Anti-Terror-Gesetze? Sie schränken unsere Freiheit nicht ein, sondern schützen sie vor denjenigen, die sie einschränken wollen. Die Muster der Identifizierung können rasant wechseln, wie im Fall des deutschen Imperialismus: Die Verschmelzung von Außenpolitik und Innenpolitik funktioniert einmal als Lehre aus Auschwitz (der Feldzug gegen Jugoslawien), einmal als Lehre aus dem Bombenkrieg (die Nichtbeteiligung an dem Krieg gegen den Irak). Wenn man davon ausgeht, dass die Staatsmacht sich über Identitätspolitik vermittelt (der gehört dazu; der wird abgeschoben etc.), dann ist heutzutage auch diese Politikform der Flexibilisierung ausgesetzt.

Der Neonationalismus und die Kulturindustrie

Auch in den Unionsparteien gibt es Anzeichen dafür, dass sie sich diesem Nationalismusmodell anschließen wollen. Den Skandal um Martin Hohmann, der ja nicht zu einem Skandal der CDU wurde, kann man auch so interpretieren, dass die Parteiführung es nicht mehr unbedingt nötig hat, den rechten Rand, die fundamentalistischen Christen und Volkstumsideologen, zu integrieren.

Das also, was vordergründig so unterschiedliche Phänomene wie Mia, Schröders Rede vom »deutschen Weg« oder die deutsche Selbstversöhnungsdebatte gemeinsam haben, ist ein Neonationalismus, der grundlegend mit den Prinzipien des alten Nationalismus gebrochen hat. Diese Phänomene sind Zeichen einer nationalistischen Beschleunigung, die selbst ihr zuwiderlaufende Elemente, den Hedonismus der Popwelt und die Erinnerung an die Shoa etwa, zu integrieren vermag.

Ein entscheidendes Kennzeichen dieses Nationalismus ist seine Verschmelzung mit der Kulturindustrie, also der »intellektuellen Produktion unter den Imperativen von Warenförmigkeit«, wie der Soziologe Heinz Steinert beschreibt. Der Nationalismus vermittelt sich im verstärkten Maße kulturindustriell und weniger staatspolitisch. Man könnte in Anlehnung an alte Debatten vom militärisch-kulturellen Komplex sprechen oder vom kulturmonopolistischen Kapitalismus.

Wenn Gerhard Schröder mit Blick auf Martin Walser konstatiert, ein Schriftsteller müsse sagen, was ein Politiker nicht sagen darf, dann äußert sich darin nicht nur kaum verhohlen die Sympathie mit dem aufrechten Deutschnationalen. Schröder verweist vielmehr auf die funktionierende Arbeitsteilung. In dem Maße, in dem der staatspolitische Nationalismus auf die Blut-und-Boden-Rhetorik verzichtet und auf Zivilisierung, Demokratieexport und Toleranz setzt, eignet er sich auch für eine kulturindustrielle Verwertung, und diese war in den vergangenen 50 Jahren dezidiert westlich geprägt.

Kulturindustriell vermittelter Nationalismus ist nicht so sehr die Abwendung von der Westbindung und vom Amerikanismus. Vielmehr werden die Westbindung und der Amerikanismus unter den Bedingungen der wieder gewonnenen deutschen Souveränität neu bestimmt. Die Popelemente erlauben es, in der nationalistischen Mobilisierung mit dieser zu spielen: Wir sind zwar stolz, Deutsche zu sein. Aber wir nehmen das auch nicht so ganz ernst. Immer locker bleiben. Das Kommando lautet: Endlich dürfen wir es sein, weil wir es in diesen Krisenzeiten sein müssen!

Dieser Neonationalismus mag sich als permanentes nation building verstehen, als große Gruppentherapie, in der endlich auch der Bombenkrieg zur Sprache kommen darf, aber er bleibt prekär. Bedroht ist er weniger von dem düsteren Geraune eines Martin Hohmann – gerade das wird ja stets rituell entlarvt und abgewehrt –, als vielmehr strukturiert durch die ökonomische Krise: Auf Dauer möchte (und kann) keiner eine ökonomisch prekäre Situation als Pfand für eine kunterbunte Demokratie hinnehmen. Stolzdeutscher Lifestyle und Versöhnungskult müssen sich als Momente einer bestimmten Krisenregulierung bewähren. Sie sind Medien, durch die die Krise erfasst und verarbeitet werden kann. Nationalismus als Prozess, in dem die Zusammenrottung der Staatsbürger, die zunächst nur über einen antagonistisch organisierten Produktionsprozess aneinander hängen, zur Nation vollzogen wird, ist nicht nur ein reaktiver Vorgang. Er ist, wenn man so will, das »Politische« des Begriffs »politische Ökonomie«. Das lässt sich an den oben genannten Vorgängen – Selbstversöhnung, Skandal um Martin Hohmann, Popnationalismus – exemplarisch zeigen.

Die Nation und die Krise

Die Selbstversöhnungsdebatte wird nicht zufällig in einer Zeit geführt, in der sozialpolitisch nicht mehr für oder gegen die Härten des Kapitalismus argumentiert wird, sondern mit ihnen. Niemand spricht mehr davon, dass alles besser werde, wenn wir alles deregulieren (oder im Gegenteil: den freien Markt wieder regulieren). Die Rede ist davon, dass es so oder so härter werde, nur das Schlimmste lasse sich gerade eben noch abwenden. Die Entmündigung der Lohnabhängigen, die sich in ihr Schicksal zu fügen haben oder untergehen werden, ist so auf die Spitze getrieben, dass sie als tragische Opfermasse dastehen.

Was hilft, ist das Selbstverständnis der Opfermasse als Opfermasse. Eine Art Bewusstwerdungsprozess, der über die Vergangenheit, in der man angeblich schon einmal Opfermasse war, vermittelt wird. Über die Gegenwart kann er nicht vermittelt werden, denn diese stellt sich als Entmündigung und Entfremdung par exellence dar.

Heutzutage haben in dieser deutschen Opfergemeinschaft auch die tatsächlichen Opfer Platz. Kein ernsthafter Nationalist bestreitet mehr die Schuld der Deutschen. Aber jeder wird fuchtig, wenn im Gegenzug nicht auch das deutsche Leid und die selbstbewusste Verantwortung, die sich etwa in der Rolle der Degussa bei der Arbeit am Holocaust-Mahnmal ausdrückt, akzeptiert werden. Die Konstruktion einer historischen Opferrolle ist die Entschädigung für die gegenwärtige und Leitbild zu ihrer Verarbeitung. Waren »wir« nicht schon damals Spielball fremder Mächte? Und haben wir nicht trotzdem überlebt? Die deutsche Versöhnung mit der Geschichte ist auch eine Versöhnung mit der Hyperkapitalisierung.

Hohmanns Irrtum

Der Fehler Martin Hohmanns, der den Sinn dieses Geschichtsdiskurses durchaus im Blick hat, liegt in seiner Metaphysik, aus der er sein Geschichtsverständnis ableitet. Hohmann glaubt ja nicht einfach an eine jüdisch-bolschewistische Weltverschwörung, sondern an eine jüdisch-bolschewistisch-faschistische. Auch der Faschismus habe die Gemeinschaft zerstört, sei eine nihilistische Revolte gewesen. Der Abfall vom Glauben, verkörpert in den »Gottlosen mit ihren gottlosen Ideologien« als dem wahren Tätervolk, ist die dunkle Kraft der Geschichte.

Der nationalistische Mainstream wendet sich mit Grausen ab. Denn der heutige Nationalismus ist anti-metaphysisch und strikt positivistisch orientiert. Je mehr Bilder von Bombenopfern Jörg Friedrich in seinen einschlägigen Publikationen veröffentlicht, desto evidenter wird die Tatsache, dass wir auch Opfer gewesen sind.

Der Popnationalismus, der sich ja ganz harmlos äußert, etwa in Rankings, in denen Menschen, die sonst nichts gemein haben, zu den »100 wichtigsten jungen Deutschen« zusammengefasst werden, oder in einer schwarz-rot-goldenen Ausgabe der Zeitschrift Max mit der Titelzeile: »Warum wir besser sind als wir denken« ist das Produktiv-Machen dieser Opferrolle.

Nationalismus wird zu einer Produktivkraft, zu einem Optimismus, der aus dem unmittelbar Gegebenen das Beste zu machen versteht. Das muss nicht anti-amerikanisch sein, solange das »Amerikanische«, was immer das im einzelnen sein mag, »die amerikanische Kultur« oder »die amerikanische Außenpolitik«, nicht der Entfaltung der Produktivkraft im Wege steht. Politiker, Militärs und Industrielle, die so trottelig und ignorant durchs Leben wanken, wie sie es in den Büchern und Filmen von Michael Moore tun, dürfen nicht unser ohnehin schon bitteres Schicksal bestimmen.

Es gibt im Neonationalismus einen Widerspruch zwischen Schicksalsergebenheit (Nationalismus als Opfergemeinschaft) und Schicksalsbestimmung (Nationalismus als Produktivkraft). Vor 200 Jahren löste Hegel diesen bürgerlichen Selbstwiderspruch in der Figur des Soldaten auf. In der Gestalt des Soldaten vereinigen sich, schrieb Hegel, »gänzlicher Gehorsam und Abtun des eigenen Meinens und Räsonierens, (also) Abwesenheit des eigenen Geistes und intensivste und umfassende augenblickliche Gegenwart des Geistes und Entschlossenheit«. Die damalige Zeit war ehrlicher. Heute hat der Demokrat den Soldaten abgelöst.