Oben ohne in Frankreich

Jacques Chirac hat in einer Grundsatzrede eine »Neudefinition des Laizismus« eingefordert. Das Tragen religiöser Symbole an Schulen soll endgültig verboten werden. von bernhard schmid

In Frankreich wird es demnächst ein Gesetz zur Neudefinition der Spielregeln des staatlichen Laizismus geben. Aus Sicht der Staatsspitze genießt das Thema offenkundig höchste Priorität; Staatspräsident Jacques Chirac hielt dazu am vorigen Mittwoch eine feierliche Ansprache vor einem ausgewählten Publikum von 400 Personen aus Regierungskreisen, aus dem Bildungswesen und antirassistischen Organisationen. Seine Rede nahm in allen Medien Frankreichs breiten Raum ein. Künftig soll, so Chirac, an öffentlichen Schulen das Tragen bestimmter Symbole gesetzlich verboten werden. Chirac nannte konkret »den islamischen Schleier oder das Kopftuch, die Kippa und überdimensionierte Kreuze«.

Die Regierung scheint es eilig zu haben. Nur wenige Minuten nach der Präsidentenrede kündigte Premierminister Jean-Pierre Raffarin an, die Regierungsfraktionen würden bald ein Gesetz verabschieden, das Fragen zum Laizismus regeln würde. Dieses soll zu Beginn des nächsten Schuljahres bereits in Kraft gesetzt werden, damit müsste es spätestens bis zur Sommerpause verabschiedet sein.

Die Ursache für die Betriebsamkeit an der Staatsspitze ist die so genannte Kopftuch-Debatte, die in den letzten Monaten in Frankreich wieder aufgeflammt ist. Von den bisher ausgesprochenen Schulverweisen, die mit dem unzulässigen Tragen religiöser Symbole begründet wurden, waren ausschließlich Mädchen aus muslimischen Familien betroffen, was auch daran liegt, dass Kippa tragende Jugendliche aus orthodoxen jüdischen Familien meist in konfessionelle Schulen gehen. Außerdem besuchen rund 20 Prozent eines Jahrgangs in Frankreich katholische Privatschulen, die sich zu einer Art Elitezweig des allgemeinen Schulsystems entwickelt haben und in denen die Spielregeln des Laizismus eh keine Anwendung finden.

Die Debatte um die Kopfbedeckung von Schülerinnen aus Einwandererfamilien ist heikel. Auf der einen Seite steht die Frage nach der Verbundenheit, nein vielmehr nach der Emanzipation eines Individuums gegenüber der Herkunftsgruppe und der Familie. Andererseits aber wirft das Thema auch die Frage auf, wie Frankreich mit seinen Minderheiten umgehen soll. Besonders im Hinblick auf die maghrebinischen Immigranten in Frankreich ist das Problem äußerst delikat. Stößt man hier doch auf einen besonders tief verwurzelten, spezifischen Rassismus, der vor allem die Algerier trifft. Dieser wurzelt in der französischen Kolonialgeschichte und dem Unabhängigkeitskrieg.

Zwei Ereignisse ließen die Debatte in diesem Jahr wieder aufflammen. Da war der Versuch des konservativen Innenministers, Nicolas Sarkozy, gerade die konservativ-religiösen Strömungen unter den französischen Moslems als sozialen Stabilitätsfaktor einzubinden und sie gleichzeitig zu »domestizieren«. Seit vorigem Jahr hat Sarkozy ein Gremium geschaffen, das den französischen Islam repräsentieren soll: Rund 3 000 Wahlmänner wurden bestimmt, die im März dieses Jahres einen Französischen Beirat des islamischen Kultus (CFCM) wählten. Zweck der Gründung des CFCM war es einerseits, die praktizierenden Moslems mit den anderen Religionen gleichzustellen. Da es im sunnitischen Islam keinen Klerus gibt, verfügten diese nämlich über keine anerkannte Vertretung und wurden daher auch bei Gesprächen der Regierung mit den Religionsgruppen permanent übergangen. Andererseits wollte die Regierung aber auch, dass das neue Gremium eine konservative, »stabilisierende« Wirkung auf die Einwandererkinder entfalte.

Das Wahlmännersystem bevorzugte jedoch die konservativen bis reaktionären finanziell gut ausgestatteten Organisationen, weil die Zahl der Wahlmänner von Größe des Gebetsraums abhing. Zu ihnen gehört die rechtskonservative UOIF (Union des organisations islamiques de France), die zur zweitstärksten Kraft im neuen Beirat wurde. Im April trat Innenminister Sarkozy auf deren jährlichem Kongress in der Pariser Vorstadt Le Bourget auf. Dabei erklärte er, er sei »als Freund« gekommen – forderte dann aber auch dazu auf, die UOIF solle ihre Anhänger zur Einhaltung der staatlichen Gesetze auffordern. Dazu gehöre, dass Frauen auf Passbildern unverhüllt zu posieren hätten. Die Zuhörer, die ihm bis dahin mehrfach applaudiert hatten, pfiffen Sarkozy spontan aus, bis sie durch ihre Kader zur Ordnung gerufen wurden. Daraufhin flammte in den Medien erneut eine Islam-Debatte auf. Verstärkt wurde diese erneut im Oktober durch die Affäre um einen Schulausschluss in der Pariser Vorstadt Aubervilliers (Jungle World, 44/03).

Im Juli hatte Präsident Jacques Chirac eine Kommission eingesetzt, um neue Spielregeln für den Laizismus zu definieren. Das zwanzigköpfige Gremium aus Juristen, Geisteswissenschaftlern und Politikern wurde unter dem Namen »Stasi-Kommission« bekannt – wegen ihres Vorsitzenden Bernard Stasi, eines früheren Chirac-Beraters, der jetzt als »Ombudsmann der Republik« amtiert.

Am 11. Dezember legte die Kommission ihren viel erwarteten Abschlussbericht vor. Darin schlug sie vor allem zwei Maßnahmen vor. Erstens das Verbot aller »auffälligen« religiösen Symbole an öffentlichen Schulen – an Halsketten getragene Anhänger etwa sollen nicht betroffen sein. Dabei wollte sie gleich auch noch politische Symbole verboten wissen. Das werteten linke und antifaschistische Jugendverbände als den Versuch, durch ein obrigkeitliches Gesetz den Ideenkampf Jugendlicher abzuwürgen und Ruhe zu verordnen. Wohl aus Furcht vor angekündigten Protesten hat Chirac diese zweite Hälfte des Vorschlags nicht übernommen.

Des Weiteren legte die Kommission nahe, als eine Art »Kompensation« für diese Maßnahmen sollten für die religiösen Minderheiten je ein jüdischer und ein muslimischer Feiertag in den Ferienkalender der staatlichen Schulen übernommen werden. Konkret war die Rede vom islamischen Opferfest, Aïd el-Kabir, und vom jüdischen Versöhnungstag, Yom Kippur. Dagegen erhob sich ein Sturm der Entrüstung, und bürgerliche Abgeordnete warnten vor einer Stärkung Jean-Marie Le Pens bei den Regionalwahlen im März.

Manche wiesen auch darauf hin, die Regierung habe doch erst im November den christlichen Pfingstmontag als gesetzlichen Feiertag abgeschafft. Konservative und Neofaschisten monierten gar, der Islam werde auf Kosten der christlichen Tradition Frankreichs gefördert.

Laut Umfragen waren je rund die Hälfte der sozialdemokratischen und konservativen Wähler, aber 87 Prozent der Anhänger Le Pens gegen eine Anerkennung eines islamischen und eines jüdischen Feiertags. Chirac ließ den Vorschlag daraufhin fallen.

Zur Zeit der Französischen Revolution wollte man noch im Namen des republikanischen Universalismus, der auch jetzt wieder als Grundlage für den staatlichen Laizismus zitiert wird, den auf christlichen Feiertagen beruhenden Kalender umwerfen. Ein Gesetzesentwurf von 1793 wollte sogar den Wochenrhythmus verändern. Statt des Sonntags, der auf die Erfordernisse des christlichen Gottesdienstes zurückgeht, sollte ein anderer wöchentlicher Ruhetag eingeführt werden: der décadi.

Dieser Versuch blieb allerdings in nachhaltig schlechter Erinnerung. Denn nur für die aufstrebende Bourgeoisie hatte die neue Einteilung in décades (statt Wochen), die für einige Monate tatsächlich in Kraft war, einen unerhörten praktischen Vorteil: Statt alle sieben Tage sollte der arbeitenden Bevölkerung nur noch alle zehn Tage ein Ruhetag gegönnt werden.