Pillen vom Präsidenten

Die US-Regierung verspricht den Rentnern eine bessere Gesundheitsversorgung. Doch die Medicare-Reform erfreut eher Pharmakonzerne und Versicherungen als die Senioren. von max böhnel, new york

Zumindest ein Mann wird von der Reform der staatlichen Gesundheitsversorgung in den USA profitieren. Thomas Scully musste sich nicht bewerben, als er Anfang der vergangenen Woche seinen Posten als Leiter des Center for Medicare and Medicaid Services aufgab. Die Firmen warben um ihn, und den Zuschlag erhielt die Anwaltskanzlei Alston&Bird, deren Manager Ben Johnson erklärte, Scully werde für die Klienten die Medicare-Reform, an deren Ausarbeitung er maßgeblich beteiligt war, »interpretieren«.

US-Präsident George W. Bush betrachtet allerdings einen ganz anderen Personenkreis als Gewinner der Reform. Dies sei »ein Sieg für amerikanische Senioren«, erklärte er am 8. Dezember bei der Unterzeichnung der Gesetze zur Reform der staatlichen Gesundheitsversorgung Medicare, deren umstrittene Verabschiedung erst 2002 möglich geworden war, als die Republikaner in beiden Kammern des Kongresses Mehrheiten erhalten hatten. Vor einem Transparent mit der Aufschrift »Keeping Our Promise to Seniors« erklärte ein strahlender Präsident den Amerikanern, sie seien Zeugen »des größten Fortschritts bei der Gesundheitsversorgung für amerikanische Senioren seit der Einrichtung von Medicare«.

Tatsächlich handelt es sich mit einem Volumen von rund 400 Millarden Dollar um die größte Umwälzung des 1965 eingerichteten Systems und um die bedeutendste »Gesundheitsreform« der US-Geschichte. Medicare wurde unter dem Präsidenten Lyndon B. Johnson eingerichtet, der ein gigantisches wohlfahrtsstaatliches Programm und die formale Entdiskriminierung des US-Rechtssystems in Angriff nahm, und galt als wichtiger Schritt zur staatlich subventionierten »Great Society«.

Die Integration benachteiligter gesellschaftlicher Gruppen blieb auf halbem Weg stecken. Einige Pflöcke hat Johnson jedoch eingeschlagen. Zwar wurde in den USA keine allgemeine Versicherungspflicht eingeführt. Doch Rentner über 65 ohne finanzielle Mittel für eine Privatversicherung – die heute jährlich mindestens 5 000 Dollar verschlingt – konnten sich auf die staatliche Medicare-Versicherung stützen. Sie sichert eine Basisversorgung, ebenso wie eine zweite Versicherung namens Medicaid die Allerärmsten notdürftig auffängt.

Dass es sich bei der Reform um einen Fortschritt handelt, darf bezweifelt werden. Vordergründig hat Bush, der 2000 als »Konservativer mit Herz« antrat und in seinen Reden an die Nation zu Jahresbeginn neben dem »Antiterrorkrieg« auch die weniger beachtete Medicare-Reform durchzuführen versprach, tatsächlich mehr als 40 Millionen Senioren und Behinderte in den USA mit einer Wohltat beglückt. Erstmals sollen sie ab 2006 in den Genuss von Zuschüssen für Medikamente kommen, die sie bislang selbst bezahlen müssen. Nur während der Behandlung im Krankenhaus werden die Arzneimittelkosten übernommen.

Die Reform sieht jedoch eine weitere Privatisierung und eine Staffelung der Zuzahlungen vor, deren Langzeitfolgen verheerend sind. Das neue Gesetz setzt in zwei Jahren, wenn es Gültigkeit erlangt, 35 Dollar Medicare-Mitgliedsbeiträge und 275 Dollar jährliche Eigenbeteiligung an – wofür die Regierung 80 Prozent der Arzneimittelkosten, maximal 4 500 Dollar, übernimmt. Doch zum einen haben die Patienten nicht die freie Wahl der Arzneien und müssen auf eine relativ enge Auswahl von Billigprodukten zurückgreifen. Andererseits werden die Kosten erheblich steigen. So errechneten Haushaltsexperten im Kongress noch während der hitzigen Debatten im Vorfeld der Gesetzesunterzeichung, dass sich die Mitgliedschaft in der staatlichen Versicherung auf monatlich 58 Dollar und die Eigenbeteiligung auf jährlich 445 Dollar belaufen werden. Kein Pappenstiel für einen durchschnittlichen amerikanischen Rentner, der im Alter von 70 Jahren über ein Jahreseinkommen von nur rund 20 000 Dollar verfügt.

Der Abgeordnete Dave Obey aus dem Bundesstaat Wisconsin rechnete außerdem aus, dass Medicare von den ersten 5 000 Dollar Arzneimittelkosten, die ein Patient aufbringen muss, nur rund 1 000 Dollar erstatten wird. Das Staffelprinzip sieht vor, dass die staatlich Versicherten bis zu einer Grenze von 2 250 Dollar nur 75 Prozent zurücküberwiesen bekommen. Wer zwischen dieser und 3 600 Dollar liegt, muss die Kosten alleine tragen, wer im so genannten Katastrophenfall darüber liegt, bekommt 95 Prozent erstattet.

Jenseits der immanenten Risiken, denen Medicare-Empfänger ausgesetzt werden, liegt das Problem in den »Anreizen«, die den privaten Versicherungen per Gesetz geliefert werden. Die großen Versicherungskonzerne, deren Vorstände beim Bekanntwerden der Reform der New York Times zufolge in Jubel ausbrachen, dürfen sich in Zukunft auf dem Markt mit Medicare messen. Ab 2010 soll ein entsprechendes sechsjähriges Testprogramm in sechs Großtädten freigegeben werden.

Auch die Pharmaindustrie, die neben den Versicherern zu den großzügigsten Spendern im Bush-Wahlkampf 2000 gehörte, freut sich über das »payback« in Form eines weiteren Gesetzesparagraphen. So werden nicht nur Preisbeschränkungen aufgehoben, sondern auch Barrieren für Arzneimittelimporte aus dem Ausland errichtet. Zehntausende von Patienten versorgen sich seit Jahren mit teilweise sehr viel preisgünstigeren Medikamenten aus Kanada. Wie groß die Preisunterschiede sind, machen seit Jahren Busladungen voller amerikanischer Senioren deutlich, die aus den US-Grenzregionen zu Tagestrips nach Kanada reisen, um sich mit Arzneimitteln einzudecken. Medikamente konnten bislang auch per Internet bestellt werden.

Ausschlaggebend für die politische Durchsetzung der Medicare-Reform war der 35 Millionen Mitglieder umfassende, einflussreiche Rentnerverband AARP, der die Republikaner bei ihrem Vorhaben unterstützte. Die mächtige Lobby experimentiert seit einiger Zeit mit ihren eigenen Reformen herum und glaubt herausgefunden zu haben, dass die Privatisierung des Gesundheitssystems angesichts der 77 Millionen Baby Boomer, die sich in 15 bis 20 Jahren aufs Altenteil setzen werden, zu ihren Gunsten verlaufen wird. Die Strategen der Vereinigung sehen sich von Umfragen bestärkt. Die heutigen Rentner seien an das traditionelle Medicare gewöhnt, die Baby Boomer, die künftige Klientel der AARP, bringe Privatisierungsexperimenten deutlich mehr Sympathie entgegen.

In mehreren Städten verbrannten Rentner öffentlich ihre AARP-Mitgliedsausweise, doch die Proteste blieben sporadisch. Die oppositionellen Demokraten wollen das Gesetz revidieren und hoffen nun bei den Wahlen im November 2004 auf die Stimmen unzufriedener Rentner.

Die Initialzündung für den notwendigen Widerstand gegen die Agenda 2010 Bush’scher Prägung dürfte jedoch eher aus dem betrieblichen Bereich kommen. Voraussichtlich werden sich in Folge der Medicare-Reform nicht wenige Unternehmen aus der betrieblichen Hilfe für Arzneimittelkosten verabschieden. Seit zwei Monaten bestreiken etwa 70 000 Arbeiter vier große Supermarktketten im südlichen Kalifornien. Die Konzerne, die bislang die Gesundheitsversicherung übernommen haben, verlangen von den Arbeitern und Angestellten Beiträge von 20 bis 60 Dollar pro Monat. Ende November beschlossen die einflussreichen Teamster, bestreikte Geschäfte nicht mehr zu beliefern, denn der Streik wird von vielen Gewerkschaftern als symbolischer Kampf begriffen, dessen Ausgang die Arbeitsverhältnisse in den kommenden Jahren bestimmen wird. Da eine Schlichtung in der vergangenen Woche nicht in Sicht war, wollen die Gewerkschafter den Streik ausweiten.