Seid sparsam und mehret euch

Sozialstaat und Kirche von stefan wirner

Es ist die Zeit der Wunder und Überraschungen. Und trotzdem dürfen Sie sich nicht wundern, wenn Ihnen, sollten Sie über die Feiertage eine katholische Kirche besuchen, der Pfarrer von der Kanzel zuruft: »Reformen sind notwendig. Deutschland verträgt keinen weiteren Stillstand.«

Vielleicht erklärt er Ihnen auch: »Den meisten Menschen ist bewusst, dass sich etwas ändern muss, wenn der Sozialstaat gerettet werden soll.« Möglicherweise weist er Sie unter den flackernden Weihnachtskerzen und im Duft von Weihrauch und Myrrhe auf das Problem der Generationengerechtigkeit hin: »Die derzeitige Struktur der sozialen Sicherung privilegiert tendenziell ›die Alten‹ gegenüber ›den Jungen‹.« Zu guter Letzt predigt er Ihnen vielleicht, was das Grundübel der Menschheit ist: »Andererseits trägt der Sozialstaat heute selbst dazu bei, dass die Solidarität in der Familie durch die heutigen sozialstaatlichen Umverteilungsmuster eher geschwächt als gestärkt wird.«

Diese wundersamen Jahresendpsalmen kann man in einer Schrift der Deutschen Bischofskonferenz nachlesen, die den Titel trägt: »Das Soziale neu denken. Für eine langfristig angelegte Reformpolitik.« Das Motto lautet aber eigentlich: Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott!

Der »Impulstext« solle die Bedingungen aufzeigen, die einen »langfristig zukunftsfähigen Reformpfad« ermöglichen, schreiben Kardinal Karl Lehmann, der Vorsitzende der Bischofskonferenz, und Bischof Josef Homeyer im Vorwort. Das Ganze liest sich mal wie eine Rede Gerhard Schröders, dann wieder wie eine von Dieter Hundt, dem Präsidenten der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), manchmal klingt Roland Koch an. Einige Sätze sind schwer zuzuordnen, zu oft hat man sie schon gehört: »Eine Gesellschaft, die ihre sozialen Sicherungssysteme nicht neuen Herausforderungen anpasst, gefährdet ihren inneren Zusammenhalt.« Könnte von Guido Westerwelle sein, aber auch von Arnulf Baring.

Den Bischöfen reichen die gegenwärtigen Reformpläne nicht »tief und weit genug«, denn der »Reformstau« habe zu einer Gesellschaft geführt, »in der gesellschaftliche Ressourcen der Solidarität und Eigenverantwortung zusehends geschwächt werden«. Stattdessen sollten mehr Kinder gezeugt werden, und damit ist schon die vergnüglichste Forderung der Gottesdiener benannt.

Die »Besitzstände aller Beteiligten« sollen in Frage gestellt werden, ein Niedriglohnsektor müsse her. Die Sozialpolitik sei auf eine »Verteilungspolitik« beengt. Dieser Satz ist im Heft Arbeitgeber des BDA auf jeder zweiten Seite zu lesen.

Man muss den Bischöfen dankbar sein, dass sie die Forderungen des Jahres 2003 noch einmal so prägnant zusammengefasst haben. Wer in den vergangenen zwölf Monaten außer Landes war, dem wird der Zustand dieser Gesellschaft, ihr Denken und Fühlen, auf 28 heiligen Seiten verständlich mitgeteilt.

Dass gerade die katholischen Bischöfe sich kurz vor Weihnachten zu dem Thema äußerten, trifft auch in anderer Hinsicht. Denn im Laufe dieses Jahres wurde offenbar, dass der Sozialabbau die eigentliche Religion einer Mehrheit der Deutschen ist. Von ihm allein erwartet man sich eine segensreiche Zukunft, er wird geradezu angebetet. Die Talkshow von Sabine Christiansen ist die allwöchentliche Messe, der Vermittlungsausschuss das Konzil. Und wie man allerorten hören kann, soll es nächstes Jahr genauso weitergehen. Gehet hin in Frieden. Dank sei Gott dem Herrn.