Die Beerdigung der Linken

Nach dem ersten Amtsjahr des brasilianischen Präsidenten Luiz Inácio »Lula« da Silva jubelt die Oligarchie, doch Lateinamerikas Progressive sind perplex bis angewidert. von klaus hart, rio de janeiro

Brasiliens Linke haben Lula bereits auf dem Weltsozialforum in Porto Alegre vor einem Jahr kritisiert und die neoliberalen Weichenstellungen der neuen Regierung, die obskuren Bündnisse mit Rechtsparteien, erzreaktionären Oligarchen und früheren Diktaturaktivisten verurteilt. Doch kaum einer hörte zu, nahm die Warnungen ernst, die aus Deutschland angereisten Lula-Fanclubs schon gar nicht. Man wollte das neue Idol, den Hoffnungsträger, die Ikone der Progressiven, Drittweltbewegten, Globalisierungskritischen feiern, faselte vom Aufschwung der linken Bewegung Lateinamerikas, der ganzen Welt – dank Lula und seiner Arbeiterpartei PT.

Hätte in Porto Alegre jemand vorhergesagt, dass dieser aus der tiefsten Unterschicht ins politische Establishment aufgestiegene Arbeiterführer schon bald ausgerechnet die Arbeiter und die Slumbewohner am meisten bluten lassen, die Massenarbeitslosigkeit auf neue Rekordhöhen treiben, die Misere vergrößern werde hätte man ihn für verrückt erklärt. Angst vor echten, tief greifenden Veränderungen, so die angesehene Kongress-Senatorin Heloisa Helena in Porto Alegre, habe längst die Hoffnung besiegt. Anstatt einen historischen Moment zu nutzen, demonstriere die Regierung Lulas Schwäche, unterwerfe sich dem Internationalen Währungsfonds, alles zum Schaden der armen, verelendeten Bevölkerungsmehrheit.

Im vergangenen Monat wurde die Senatorin Helena, immerhin PT-Exekutivmitglied, aus der Partei entfernt, zusammen mit drei anderen populären Andersdenkenden, die Lulas Kurswechsel nicht mitvollziehen wollten. Wochen zuvor hatten über 900 internationale Linke, darunter Noam Chomsky, mit einem Manifest Lulas Führungszirkel ins Gewissen geredet: Solche Parteiausschlüsse seien eine »fürchterliche Botschaft an die Welt«. Sie suggerierten, dass die Arbeiterpartei ihre »stolze Tradition der Demokratie, des Pluralismus, der Toleranz verloren habe«.

Derlei Einwände wischte die Führung vom Tisch und warf die Dissidenten wie angekündigt hinaus. Seitdem regnet es Austritte prominenter Mitgründer der Partei und kritische Analysen von führenden brasilianischen Linksintellektuellen. Die Grundthesen zusammengefasst: Lula verbürgerlichte, wurde zum harmlosen »Lulu«, von den Märkten zum Null-Risiko domestiziert. Er und seine Regierung haben die Linke des größten lateinamerikanischen Landes beerdigt. Lulas Wirtschaftspolitik ist weit konservativer, rigider, neoliberaler als die seines Amtsvorgängers Fernando Henrique Cardoso, die Sozialpolitik entsprechend rückschrittlich. Lula vermeidet um jeden Preis Konflikte mit dem Großkapital.

Waldemar Rossi in São Paulo, einer der bekanntesten Führer der sozialen Bewegungen des Tropenlandes, organisierte früher mit Lula Streiks und kennt ihn wie kaum ein anderer: »Lula ist in Wahrheit nicht einmal sozialdemokratisch, ist ideologisch fragil. Er wuchs in der Gewerkschaftsbewegung faschistischen Ursprungs auf, in einer von multinationalen Konzernen geprägten Industriestruktur. Seine Weltsicht, seine Sicht von Entwicklung ist just jenes derzeit auf der ganzen Welt dominierende Modell. Lula fehlt eine klare Vision der Differenziertheit in der heutigen Welt, Lula war nie ein Linker. All dies erklärt seine Bewunderung für Adolf Hitler.«

Bereits als Gewerkschaftsführer sagte Lula in einem Interview: »Hitler irrte zwar, hatte aber etwas, das ich an einem Manne bewundere: dieses Feuer, sich einzubringen, um etwas zu erreichen (…) Was ich bewundere, ist die Veranlagung, Bereitschaft, die Kraft, die Hingabe.« Die Aussage wurde nie dementiert.

Deutschlands Pseudo-Progressive wollten Derartiges lieber nicht zur Kenntnis nehmen. Mit etwas weniger Faktenresistenz als üblich hätte zudem auffallen können, wie sich Lula selbst politisch definiert: »Mein ganzes Leben lang mochte ich überhaupt nicht, als Linker, Linksgerichteter klassifiziert zu werden. Und als sie mich zum ersten Mal fragten, ob ich Kommunist sei, habe ich geantwortet: Ich bin Dreher.«

Es ist kein Geheimnis, dass Lula und seine Führungsriege sehr enge Arbeitskontakte zu den deutschen Sozialdemokraten pflegen, dass Lula ausgerechnet Tony Blair lobt, George W. Bush sehr sympathisch findet und ihm natürlich eilfertig telefonisch zur Festnahme von Saddam Hussein gratulierte. Die Arbeiterpartei PT, so lauten weitere Analysen, wurde zur größten rechten Kraft in der brasilianischen Politik, tauschte die Parteibasis aus, gründete sich de facto neu, gehört nun zum Establishment, wurde eine bürgerliche Partei der politischen Mitte, arbeitet mit den gleichen uralten und fragwürdigen, bisher stets heftig abgelehnten Methoden der anderen Parteien. Arbeiterklasse, Gewerkschaften, soziale Bewegungen, progressive Mittelschichtler wenden sich teilweise von der PT ab oder werden bewusst abgeschreckt, während Geldleute, Aufsteiger, Karrieristen und vor allem die Masse der Verarmten, Verelendeten hinzukommen.

Die Letztgenannten sind das größte Wählerreservoir, leicht manipulierbar, schwach politisiert und informiert, mit geringen Erwartungen. Die Sozialpolitik der Regierung Lula funktionalisiert lediglich die Misere, statt sie wirklich zu bekämpfen. Viele Linke sind wegen des erlittenen »Verrats« durch Lula und die ganze PT-Führung in Trauer.

Als Lula mit allem Pomp vor einem Jahr in den Präsidentenpalast Brasilias einzog, erwarteten auch in Europa viele Progressive und Drittweltbewegte schier beispiellose, antineoliberale Sofortmaßnahmen, die auf den Rest der Welt ausstrahlen würden. Stattdessen gab es Neoliberalismus pur. Anfang 2004 sind daher viele Gegner und Sympathisanten der Lula-Regierung im In-und Ausland perplex: Banken und Börsen, der Internationale Währungsfonds, die Landeseliten reagieren erleichtert bis euphorisch, im Nationalkongress gibt es keinerlei echte Opposition. Denn überraschend werden die Leitzinsen zunächst bis auf 26,5 Prozent hochgesetzt, was spekulatives Kapital anzieht, den Banken satte Gewinne beschert, die Börsenkurse nach oben treibt.

Auch gegen Proteste der Kirche werden die erdrückend hohen Außenschulden fristgerecht zurückgezahlt. Die so genannte Länderrisiko-Taxe sinkt unter Lula von bedrohlichen 1439 Punkten auf nur noch 468 – ein Indiz für die hohe politische Glaubwürdigkeit. Lula, so analysiert die in Brasilien mit weit über tausend Firmen stark vertretene deutsche Wirtschaft, habe sich von radikalen Forderungen verabschiedet, die Konsolidierungspolitik fortgesetzt.

Das hatte seinen Preis. Statt des groß angekündigten »Wachstumsspektakels« verzeichnet Lateinamerikas bisherige Wirtschaftslokomotive 2003 de facto Nullwachstum, wurden selbst dringliche Sozialausgaben drastisch zusammengestrichen, um über 50 Milliarden Dollar Zinszahlungen leisten zu können. Etwa eine Million Erwerbstätige wird gefeuert, die Arbeitslosigkeit steigt auf Rekordhöhe, die Reallöhne sinken deutlich, kräftiges Wachstum der Slums überall. Jäh in die Misere abstürzende Familien spannen notgedrungen ihre Sprösslinge für den Lebensunterhalt ein, die illegale Kinderarbeit stieg unter Lula stark an.

Für die große Mehrheit der 175 Millionen Brasilianer verschlechterten sich die Lebensbedingungen. Die scharfen Sparmaßnahmen betreffen auch das ohnehin prekäre Gesundheitswesen, den Bildungssektor, den Umweltschutz. Die Korruption ist weiterhin sehr groß, Politikern der Arbeiterpartei droht wegen grober Verfehlungen die Amtsenthebung, ein PT-Gouverneur ist in die Abzweigung von Millionensummen sowie Wahlbetrug verwickelt.

Für öffentliche Sicherheit werden 2003 nur rund 15 Prozent der Haushaltsmittel ausgegeben. Ein Resultat ist, dass Brasilien Uno-Angaben zufolge jetzt das Land mit den meisten Morden ist, jährlich über 45 000, die auch an Indianern, Kleinbauern, Menschenrechtsaktivisten begangen werden. Die Polizei foltert weiter, es gibt etwa 40 000 Sklavenarbeiter, weiterhin 21 politische Gefangene aus der Landlosenbewegung, insgesamt gravierende Menschenrechtsverletzungen. Und selbst das groß angekündigte Programm gegen den Hunger begünstigt bisher nur etwa fünf Millionen Menschen von weit über 44 Millionen Bedürftigen.

Erheblich enttäuscht sind deshalb Gewerkschaften, Kirche, soziale Bewegungen. Der Landlosenführer Joao Pedro Stedile, im Grunde der intellektuelle Kopf der »Movimentos socialis«, nennt »die ganze Gesellschaft krank, in der Krise, ohne Projekte, die Bevölkerung in Lethargie. Wir sind ein reiches, aber ungerechtes Land. Die Agrarreform der Lula-Regierung ist bisher eine Schande.«

Doch Lula schwelgt derzeit geradezu in Eigenlob und Optimismus, ob in Fernsehspots oder der allabendlich um 19 Uhr auf sämtlichen Radiowellen durchgeschalteten einstündigen Propagandasendung »Stimme Brasiliens«. Wie die größte Qualitätszeitung, die Folha de São Paulo anmerkt, übertreffe Lula mit solch populistischer Selbstbeweihräucherung sämtliche Amtsvorgänger, und es fehle nur noch, dass er den täglichen Sonnenaufgang ebenfalls zu seinen Verdiensten zähle.