Die grauen Punker

Rock’n’Roll und Rente passen heute einfach zusammen. von jens thomas

Die Welt ist mal wieder ein wenig durcheinander: Berlins Ex-Bürgermeister Eberhard Diepgen beklatscht streikende Studenten, einige Grüne stimmen, ohne rot zu werden, dem Verkauf der Hanauer Atommüllanlage zu, und eine baden-württembergische Kirchengemeinde verteilt einfach mal eben »aus Versehen« Pornos statt Jesus-Videos.

Irgendwie regiert das völlige Durcheinander. Da gehört auch das Konzept der »Jugend« dazu. Denn »Jugend- und Musikkulturen« wie HipHop, Techno oder Punk, also jene Austobeterritorien der Jugend, veralten zunehmend. Schlägt man die Techno-Zeitschrift Raveline auf, lächeln einem Sven Väth, DJ Hell und andere angehende Urgesteine entgegen. Falten und Veralten sind wohl nicht mehr ein und dasselbe.

Rock’n’Roll und Rentenreform passen heute prima zusammen. Zwar formuliert Thomas Gross in der Zeit genau Gegenteiliges, meint aber in etwa Gleiches: »Die Popkultur ist und bleibt ein Reich ewiger Jugend«, heißt es. Stimmt, ewige Jugend. Popkultur habe das Alter nach dem Bildnis der Jugend entworfen. Zugleich aber seien Zustände eingekehrt, die auf eine »langfristige Abschaffung« des Alters hinauslaufen.

Alt werden, Punk bleiben, DJ sein, das sind heute keine Widersprüche mehr. Denn die Jugendphase, die kann ewig gehen. Aber »Jugendphase«, was meint das überhaupt?

Darüber zerbrechen sich Forscher aller Disziplinen regelmäßig den Kopf. Entwicklungspsychologisch wird sie als biografische »Übergangsphase«, als »Statuspassage« von der Kindheit zum Erwachsensein verstanden. Früher war der Sachverhalt relativ klar. Die Jugend erlosch faktisch mit dem Eintritt ins Berufsleben. Danach begann der Ernst des Verlebens: Ehe, Kinder, Häuserbau.

Heute ist das anders. Die »Jugend« ist keineswegs mehr mit dem Ende der Pubertät abgeschlossen. Was Jugend ist, das ist eine Definitions- wie Empfindungssache. Wahrnehmungen aber werden durch Gesellschaftsprozesse mitproduziert. Alles fängt heute früher an – das erste Handy am besten mit fünf –, alles dauert zudem länger – wie die Ausbildungszeit, mit 38 noch immer Philosophiestudent. Die Jugendphase – so die Erkenntnis von Jugendkulturforscher Dieter Baacke – beginnt zwar einerseits immer früher, zieht sich andererseits aber wie ein zertretenes Kaugummi übers Straßenpflaster.

Das hat natürlich Auswirkungen auf die Jugend- und Popkulturen. Als sich die Musikszene herausbildete, war das anders. Ein Blick in die alte Plattenkiste langt da schon: Früher sah es zarter aus. Auf alten Straight-Edge-Scheiben etwa (Straight Edge, eine drogenfreie Weiterentwicklung aus dem Punk). Überwiegend 15jährige recken gekreuzte Hände als Symbol des drogenfreien Durchhaltevermögens kampfesmutig gegen die schlimme Welt in die Luft. Kaum einer im Publikum ist über 20. Kürzlich trat die Straight-Edge-Koryphäe Youth of Today im Berliner Kato auf. Zwanzig Jahre später ist plötzlich kaum einer mehr unter 30. Die Bandmitglieder um die 40. Geht den Musikkulturen etwa die Jungschar aus? Sicher nicht, Nachwuchs gibt es noch immer, wenn sich auch eine Überalterung gerade bei Szene-Protagonisten feststellen lässt.

Aber warum fragen wir nicht einfach mal einen, den es seit zwei Jahrzehnten in einer veralteten Jungspundszene hält, warum er das tut? Also: Lieber Scheune, du bist nun seit bald 20 Jahren Gitarrenspieler der Skate-Punkrockband Disaster Area. Hast du denn keine beruflichen Ziele wie alle anderen?

»Doch, ich hab ja einen Job. Ich arbeite bei Musicflash, einer Produktionsfirma, die sich aus Noiserecords entwickelte.«

Scheune ist ein netter Mensch, er ist 40, lacht viel und fährt bis heute Skateboard. Einen Job hat er auch, einen, der sich aus seiner Subkulturnische entwickelte.

Ein wichtiger Punkt. Entstanden Jugendkulturen wie Punk oder HipHop einst als Anklage gegen gesellschaftliche Verhältnisse, konnten sie im Zuge ihrer kommerziellen Vereinnahmung immer mehr Joboptionen hervorbringen. Sie sind gewissermaßen »durchökonomisiert«. Subversion und Kommerz »koexistieren« heute nicht nur, wie die Modeforscherin Birgit Richard anmerkt, mehr noch, sie bedingen sich. Ein Großteil der Jugendkulturen in den neunziger Jahren entziehe sich dem kommerziellen Druck nicht mehr, so der Soziologe Paul Willis. Jugendkulturen seien in erster Linie »Konsumgemeinschaften«.

Da ist auch für die Karriere Platz, selbst wenn der Musikmarkt gerade einbricht – in anderen Berufssparten ist es ja nicht besser. Und man versucht sich dran: Berufspunk, ABM-DJ, Rock’ n’Roller – lebenslänglich. Das derzeitige Revival-Loop wird da helfen. Alles ist momentan irgendwie retro, kehrt wieder, Interpreten wie Fehlfarben, DAF erleben ihre Jugend einfach noch mal.

Fragen wir Scheune aber weiter. Scheune, fühlst du dich mittlerweile nicht zu alt für den ganzen Kram? »Nein, warum denn? Heute stört das doch keinen mehr.«

Noch ein wichtiger Punkt. Das Immerjungbleiben wird nicht mehr zwangsläufig mit dem hängen gebliebenen Ewiggestrigen assoziiert. Im Gegenteil. Vielmehr zeugen alte Kader in der Musikbranche von Authentizität. Das mag dem Patchwork der Stile geschuldet sein. Alles ist heute im Trend, darum wiederum auch gar nichts. Die Jugendmode ist charakterisiert durch die »Simultaneität von Gegensätzlichkeiten« (Birgit Richard). Dieses Überangebot hinterlässt aber durchaus Skepsis. Man ist schnell übersättigt, abnehmen will man das ganze Getue nicht jedem. Alles schon mal gehört, gesehen, oder gar mitgemacht. HipHop für einen Sommer, Raver nur am Wochenende.

Bei all dem Wirrwarr ist Authentizität wichtig. Und wer bei der Stange bleibt, nicht zwischen den Möglichkeiten hin und her springt, der wirkt ehrlich, meint es wohl wirklich so. Dass die Poppunkband Boxhamsters dieses Jahr 18, Distaster Area 20 Jahre alt wird, der Rapper Ice-T auf die 50 zugeht, kommt dann gar nicht mal schlecht. Das muss wohl Realness sein.

Aber machen wir uns nichts vor, das Alter wird demnächst eh keine Rolle mehr spielen. Und eigentlich kann man die Jugend auch ganz abschaffen. Im Jahr 2050 wird es weltweit erstmals mehr ältere Menschen geben als Jugendliche. Und wenn sowieso alle älter werden, sind wiederum alle auch jünger.

Wie lange sich Scheune aber noch auf seinem Skateboard halten wird? Also: Wie lange wirst du noch Skateboard fahren, Scheune? »Solange es meine Knochen eben mitmachen.« Möge die Rentenreform mit ihm sein.