Mit Gott gegen Dissidenten

In der Ratsversammlung in Afghanistan konnte Präsident Karzai seine Vorstellungen über die Machtverteilug durchsetzen. Die Mujahedin sorgten für die Islamisierung der Verfassung. von conrad schetter

Auf eine namentliche Abstimmung verzichtete man am Schluss. »Ich lade euch ein, als Zeichen der Zustimmung zur neuen Verfassung aufzustehen«, sagte Sebgatullah Mujaddidi, der Vorsitzende der Loya Jirga. Eine große Mehrheit der Delegierten folgte seiner Aufforderung. Die fast dreiwöchigen Beratungen der Ratsversammlung kamen so am vergangenen Sonntag doch noch zu einem erfolgreichen Ende. Einige Verfassungsartikel blieben bis zum Schluss umstritten. Noch Mitte vergangener Woche hatten mehr als 200 der 502 Delegierten die Loya Jirga boykottiert. Sie konnten durchsetzen, dass neben Paschtunisch und Persisch nun auch Usbekisch zumindest in Gebieten mit usbekischer Bevölkerungsmehrheit als dritte Amtssprache anerkannt wird.

Ungeachtet aller Streitigkeiten waren die meisten Delegierten an einer Verabschiedung der Verfassung interessiert, denn ein Scheitern dieser Versammlung wäre ein großer Rückschlag gewesen, hätte die Vereinbarungen des Friedensabkommens, das vor gut zwei Jahren auf dem Petersberg bei Bonn geschlossen wurde, grundlegend in Frage gestellt und auch eine drastische Abschwächung des internationalen Engagements in diesem kriegsgebeutelten Land bedeutet. Daher übten nicht zuletzt die USA und die Vereinten Nationen starken Druck auf die Delegierten aus, möglichst schnell eine Verfassung zu verabschieden. Da diesem Ziel alle inhaltlichen Debatten untergeordnet wurden, lässt die neue Verfassung viele Wünsche offen und geht in kritischen Punkten faule Kompromisse ein. Zudem brachen während der Verhandlungen viele Konflikte wieder auf, die als längst vergessen galten.

Bereits die Zusammensetzung der Delegationen spiegelt die kaum unter einen Hut zu bringenden Interessenlagen und Standpunkte wider. So berieten seit dem 14. Dezember Mullahs, Mujahedin, Warlords, Stammesführer, Königsanhänger, Exilafghanen und Frauenrechtlerinnen in einem Zelt, das die deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit aufgestellt hatte. Wie bereits bei der Loya Jirga, die im Juni 2002 die afghanische Übergangsregierung bestätigt hatte, überschatteten zudem Unregelmäßigkeiten, Morddrohungen und Bestechungen die Wahlen zur Verfassungsversammlung. Aufgrund des Wiedererstarkens der Taliban konnten in vielen Regionen im Süden und Südosten des Landes überhaupt keine Wahlen durchgeführt werden. Jeder Zehnte der Teilnehmer an der Loya Jirga war zudem von Karzai höchst persönlich ernannt worden.

Wie sehr die afghanische Gesellschaft nach wie vor zerstritten ist, offenbarte sich bereits am zweiten Tag. Die 25jährige Delegierte Malalai Joya bezeichnete in ihrer Rede die Mujahedin als »Kriminelle« und erinnerte an deren Gräueltaten. Die junge Abgeordnete rüttelte damit an dem herrschenden Mythos des »Heiligen Krieges« gegen die sowjetischen Besatzer in den achtziger Jahren, der sogar Eingang in die Präambel des Verfassungsentwurfs gefunden hatte. Wie es um die Meinungsfreiheit in Afghanistan bestellt ist, zeigte sich tags drauf. Malalai Joya erhielt Morddrohungen, und Sebgatullah Mujaddidi, der Vorsitzende der Loya Jirga und selbst einer der einflussreichsten Mujahedin, schloss sie von der Versammlung zeitweise aus. Die junge Delegierte benötigt seitdem Polizeischutz.

Auf der Loya Jirga machte sich der starke Einfluss der Mujahedin und der religiösen Führer bemerkbar; sie dominierten die Kommissionen und erstickten Diskussionen mit religiösen Rezitationen im Keim. Auch erreichten sie ihr wichtigstes Ziel, nämlich dass die Verfassung im Einklang zum Islam stehen müsse. In der Verfassung von 1964 hieß es noch, dass islamisches Recht nur in Übereinstimmung mit der Verfassung angewendet werden dürfe. Delegierte, die sich gegen die islamische Ausrichtung der Republik sperrten, wurden als Atheisten und Kommunisten diffamiert. Gleichwohl nimmt die neue Verfassung auf die Gemütslage der »internationalen Gemeinschaft« Rücksicht, indem das Reizwort »Sharia« vermieden wird und anstelle dessen von islamischem Recht die Rede ist.

Die Verfassungsdiskussion verdeutlichte auch erneut die starke Politisierung der Genderfrage in Afghanistan. Denn die Stellung der Frau ist symptomatisch für sämtliche Konflikte zwischen Modernisierern und Traditionalisten, zwischen Kommunisten und Mujahedin, zwischen Städtern und Dörflern. Nach langem Widerstand sahen sich die Islamisten dann doch gezwungen, einer formalen rechtlichen Gleichstellung der Frauen zuzustimmen. Für ihr Zugeständnis wurden sie mit der Erfüllung einer anderen Forderung entschädigt: Das Alkoholverbot erhält nun in Afghanistan Verfassungsrang.

Die wichtigste Frage auf der Loya Jirga war jedoch, welche Rolle der Präsident im zukünftigen Afghanistan spielen soll. Mit dem Beschluss, den Präsidenten mit großen Vollmachten auszustatten, folgte die Loya Jirga, wenn auch zunächst widerwillig, den Vorgaben Hamid Karzais. Besonders die Kriegsfürsten, Stammesführer und lokalen Potentaten, die auf ihre Autonomie bedacht waren, hatten Stimmung gegen einen starken Präsidenten und für die Schaffung eines einflussreichen Parlaments gemacht, da sie um ihre Macht fürchteten.

Viele paschtunische Abgeordnete, die fast die Hälfte aller Delegierten stellten, befürworteten dagegen ein starkes Präsidentenamt, da sie als größte Bevölkerungsgruppe wie selbstverständlich davon ausgingen, dass sich dann die größte Machtfülle in der Hand der Paschtunen befinden werde. Dementsprechend votierten die Vertreter der ethnischen Minderheiten gegen ein starkes Präsidentenamt. Diese Spannungen entluden sich zudem im Vorschlag, dass die Nationalhymne in Paschtu gesungen werden sollte, und im Streit um die Nationalsprachen.

Der »internationalen Gemeinschaft«, allen voran den USA, passt die nun beschlossene Machtkonzentration beim Staatsoberhaupt ins Konzept. Zeigte sich doch Hamid Karzai in den letzten zwei Jahren als zuverlässiger Partner für das westliche Ausland, weshalb ihm viele Afghanen vorwerfen, eine »Marionette« Washingtons zu sein.

Ob sich ein starkes Präsidentenamt auch langfristig als tragfähig erweist, wenn nicht mehr der als schwach eingeschätzte Karzai dieses Amt bekleidet, ist fraglich. Denn die meisten Personen aus der politischen Elite Afghanistans würden solch eine Machtfülle für eigene Interessen und die Etablierung eines autoritären Staats ausnutzen. Und es waren letztlich radikale Mujahedin, die die Mehrheit für ein starkes Präsidentenamt besorgten. So ließ der Islamist Rasul Sayyaf keinen Zweifel daran, dass er die Schaffung eines übermächtigen Präsidentenamts als wichtigen Schritt zur Errichtung eines islamischen Gottesstaats betrachtet. Vorsorglich sprach er nicht von dem Präsidenten, sondern von dem Emir Hamid Karzai. Diesen religiösen Titel trug zuletzt der Taliban-Führer Mullah Omar, der Afghanistan in ein islamisches Emirat verwandelt hatte.

Die neue Verfassung stellt einen wichtigen, jedoch bislang nur auf dem Papier stehenden Minimalkonsens für die Beendigung der blutigen Machtkämpfe der Warlords dar. Auf der Versammlung entzündeten sich noch einmal alle Konflikte, die die politische Realität Afghanistans prägen. Vor allem Paschtunen und Islamisten demonstrierten ihren politischen Einfluss. Und solange der Einfluss der Regierung an den Grenzen Kabuls endet, bleibt die Verfassung wertlos. Freilich steht zu befürchten, dass diejenigen, die gegen die Macht der Warlords und die Rechtsprechung der Mullahs nicht nur verbal, sondern auch physisch vorgehen, nicht nur wie die Abgeordnete Malalai Joya mit Morddrohungen zu rechnen haben, sondern mit bewaffnetem Widerstand .