Das Labor des Neopopulismus

Das Auftauchen mächtiger sozialer Bewegungen bereitet den Establishments in Lateinamerika Sorgen. Doch oft fällt der radikale Inhalt der Schwäche für Caudillos zum Opfer. von andrés pérez gonzález, santiago de chile

Die sozialen Bewegungen auf dem Kontinent des »magischen Realismus« könnten dieselben Fehler und Irrtümer begehen wie vor einigen Jahrzehnten, als die Plakate und Transparente von Hunderttausenden seiner Einwohner mit »Che« Guevara, Marx, Fidel oder Allende vollgepflastert waren. Noch immer scheint an einigen Orten dieses Amerika südlich der Vereinigten Staaten die neue »Avantgarde« von Arbeitern, Studenten oder Indígenas mit Blindheit geschlagen zu sein.

Und noch immer sträuben sich anlässlich der sozialen Konflikte der reputierlichen regierenden Elite die Haare. Mit großer Verzögerung beginnen die politische Klasse im Allgemeinen, die Institutionen der Gewerkschaften und der Unternehmer, die Militärs und die Kirche im Besonderen, das komplexe lateinamerikanische Szenario wahrzunehmen.

»Lateinamerika steht einem Wiederaufleben des indigenen Messianismus in der Andenregion, dem Narcoguerilla-Terrorismus in Kolumbien und dem Neopopulismus des Venezolaners Hugo Chávez gegenüber«, versichert der mexikanische Schriftsteller Enrique Krauze, Direktor der Zeitschrift Letras Libres. Die oberflächliche Fortschrittlichkeit von Krauze bringt ihn lediglich dazu, »unsere offenbar angeborene Unfähigkeit« zu geißeln, »uns gute Regierungen zu geben«.

Ungeachtet der hysterischen Anfälle der liberalen Intelligenz in diesem Kontinent gibt es jedoch gute Beispiele für innovative und radikale Formen politischer Partizipation, die sich jenseits von Wahlintrigen und parlamentarischen Illusionen abspielen. Mit gutem Grund hält etwa Liliana Daunes, Dozentin an der Volksuniversität Mütter der Plaza de Mayo in Buenos Aires, die derzeit selbst verwaltete Fabrik Brukman für »mehr als ein Symbol des Arbeiterwiderstands«. Beim plötzlichen Sturz der Regierung von Fernando de la Rua im Dezember 2001 und unter den lauten Rufen »que se vayan todos!« (»alle Politiker sollen verschwinden«) waren die Argentinier nahe daran, »den Himmel im Sturm zu nehmen«. Das rebellische Geschrei aber kulminierte in dem, was die einheimische Presse das »Phänomen K« nennt, nach dem neuen Präsidenten Néstor Kirchner. Heute klingt dieses »que se vayan todos!« in den Ohren derer, die eine Kritik der Politik formulieren, eher wie ein schlechter Scherz.

Doch für viele stellt die Fabrik Brukman, folgt man den Gedanken der argentinischen Dozentin, ein Modell dar, nach dem »wir eine Art des Politikmachens lernen und lehren, die zeigt, dass es möglich und notwendig ist, die emanzipatorische Schlacht gegen den Kapitalismus mit der emanzipatorischen Schlacht gegen das Patriarchat zu verbinden. Oder, um es positiv zu sagen, es ist ein Kampf für die Befreiung von allen Herrschaftsformen, um eine neue Gesellschaft zu schaffen, mit neuen Müttern, Arbeitern ohne Unternehmer, und ohne Unterwerfung im alltäglichen Leben.«

Präsident Kirchner seinerseits stößt auf das unvermeidliche Problem, die »Piqueteros« entweder zu unterdrücken oder zu kooptieren – jene Gruppen von Arbeitern und Entlassenen, die in den Straßen von Buenos Aires und in den wichtigsten Städten Argentiniens demonstrieren, täglich mit Blockaden den Verkehr lahm legen und die etwa 200 000 Beteiligte umfassen.

Jenseits der Begeisterung, die Kirchner noch immer bei rund 60 Prozent der argentinischen Bevölkerung hervorruft, klagt Eduardo Pavlovsky aus einer Sektion der Gewerkschaft Central de Trabajadores de Argentina (CTA) von Buenos Aires, dass diese Piqueteros, die »die städtische Ordnung der Mittelklasse stören«, in seiner Sicht enthüllen, dass »die Kinder mit Hungerbäuchen (…), die 20 Millionen Armen und zehn Millionen Bedürftigen schreckliche Hungerschreie und Rufe nach Basisgütern ausstoßen. Ohrenbetäubendes Geschrei von Zahnlosen. All das bringen die Arbeitslosen zum Ausdruck. Das ›hässliche‹ Argentinien, das ›monströse‹ Argentinien, das Argentinien der größten sozialen Ungleichheit Lateinamerikas.«

Dessenungeachtet kam ein Berater des umstrittenen Präsidenten Jorge Batlle von Uruguay kürzlich keineswegs ins Stottern, als er Kirchner als »Agitator oder Guerillasympathisanten« bezeichnete, was sich unmittelbar an eine weitere diplomatische Streiterei zwischen beiden Nachbarstaaten anschloss. Diese war entstanden, als der uruguayische Präsident den Kapitän Juan Craigdallie zum stellvertretenden Marine-Attaché an seiner Botschaft in Buenos Aires designierte; Craigdallie wird in uruguayischen Zeitungen Folter sowie Mord an zwei Argentiniern vorgeworfen. Schnell sah sich Batlle veranlasst, seine verhängnisvolle Entscheidung zurückzunehmen.

Andererseits nährt der Fall Venezuela die nostalgische Melancholie vieler rückwärts gewandter Linker. Sie glauben, dort eine Wiederholung dessen zu sehen, was sich 1973 in Chile gegen die Regierung des Sozialisten Salvador Allende abspielte.

Doch im Kampf mit einer Inflationsrate von über 22 Prozent, einer ökonomischen Schrumpfung, die 2003 fast vierzehn Prozent betrug, und einer Massenarmut, die 80 Prozent der 24 Millionen Einwohner erfasst – ein Verarmungsprozess, der paradoxerweise mit dem Erdölboom der siebziger Jahre einsetzte –, wird Hugo Chávez, der zum Präsidenten mutierte ehemalige Fallschirmspringer, in den kommenden Monaten mit der Möglichkeit konfrontiert sein, dass ein Referendum zu einem vorzeitigen Ende seiner Amtszeit führt. Und all das, ohne dass Chávez das kapitalistische System in dem Land mit dem fünftgrößten Erdölexport der Welt antastet.

In einem kürzlich in der venezolanischen Zeitung El Razón erschienenen Artikel verlieh der Journalist Manuel Isidro Molina seinem Unmut Ausdruck, indem er schrieb: »Niemand, der sich selbst respektiert, kann akzeptieren, dass in Venezuela wegen des geräuschvollen Misserfolgs eines unreifen und unverantwortlichen Regierenden und seiner unterwürfigen Mitarbeiter die unverschämten Straßenräuber der Vergangenheit an die Macht zurückkehren, die Diebe öffentlicher Gelder, die durch die Straflosigkeit und die Komplizenschaften von gestern und heute geschützt sind.«

Während er sich so von den »Chavistas« und der Opposition abgrenzt, bemerkt er skeptisch: »Venezuela darf nicht von solchen Regierenden und ihren Seilschaften aus Strohmännern und Schmeichlern geführt werden. Die einen beanspruchen heuchlerisch den Namen der ›Freiheit‹, während die anderen sich am teuren Traum der ›Revolution‹ ergötzen.«

In Bolivien hingegen stellt der Aymara-Führer Felipe Quispe ohne Umschweife seine Absicht heraus, die »Republik von Qullasuyo, eine unabhängige und souveräne Nation« zu gründen, mit ihren eigenen patriotischen Symbolen. Quispe, Kandidat bei den Präsidentschaftswahlen 2002 und derzeit Abgeordneter, führte zusammen mit anderen Parteiführern wie Evo Morales vom Movimento al Socialismo (MAS) die aufständische Bewegung an, die im vergangenen Oktober den Rücktritt des damaligen Präsidenten Gonzalo Sánchez de Lozada bewirkte.

Auf den Seiten der mexikanischen Tageszeitung La Jornada präzisierte Quispe, dass es sein politisches Ziel sei, »eine gemeinschaftliche Republik (república comunitaria)« zu gründen, »wo es keine Armen und keine Reichen gibt, in der man den Tauschhandel praktizieren und sich um die Umwelt kümmern wird, so wie wir bereits in einigen Gemeinschaften leben, doch ohne die Modernität und die neuen Technologien abzulehnen«.

Realistischerweise sieht dieser Indígena-Führer, dass »zur Erreichung dieser Veränderung viel Blut und viele Opfer erforderlich (sind), aber wir werden sie nicht mittels Wahlen erreichen. Mit Reden im Parlament werden wir nichts bewirken und eher das System stärken.«

Der unaufhörlichen gesellschaftlichen Marginalisierung überdrüssig, die 80 Prozent der lokalen Bevölkerung erfasst, haben die diversen gesellschaftlichen Gruppen und Organisationen Carlos Mesa, dem gegenwärtigen Ersatz für den abgesetzten Präsidenten Sánchez de Lozada im Palacio Quemado, eine Atempause von drei Monaten zugestanden.

Dieses Mal folgte die Instrumentalisierung der bolivianischen »Massen« von Seiten der dienstbereiten Elite einer nationalistischen Orientierung: Die Forderung nach einem Zugang zum Meer, der 1879 im Krieg von Peru und Bolivien gegen den chilenischen Staat verloren gegangen war, rückte mehr und mehr in den Vordergrund. Das bolivianische Lobbying, das vom Präsidenten Mesa ebenso wie vom Cocalero-Führer Evo Morales unternommen wurde, hat in der Region einen unmittelbaren Widerhall gefunden.

Vielleicht weil er die Aufmerksamkeit von seinem internen Konflikt ablenken wollte, war Hugo Chávez der erste Staatschef der Region, der in das intervenierte, was die chilenische Regierung als »eine bilaterale Angelegenheit« betrachtet. In seinem bekannten Stil erklärte Chávez Mitte November: »Bolivien hat ein Meer gehabt. Und ich träume davon, an einem bolivianischen Strand zu baden.« Die Geste von Chávez führte dazu, dass die chilenische Regierung ihren Botschafter aus Caracas abberief. Venezuela antwortete, indem es seinen Repräsentanten aus Santiago abzog.

Nach Chávez erhielt Bolivien die Unterstützung des brasilianischen Präsidenten Luiz Inacio »Lula« da Silva, die »guten Dienste« als Vermittler von Seiten des UN-Generalsekretärs Kofi Annan und auch von Jimmy Carter, der nach seinem unglücklichen Zwischenspiel im Weißen Haus durch die Institution, die seinen Namen trägt, internationale Reputation gewonnen hat. Am 24. Dezember schloss sich auch Fidel Castro der Erklärung seines Freundes Chávez an. Nichtsdestotrotz war diese Forderung nicht mehr in der regionalen Debatte aufgetaucht, seit die Organisation Amerikanischer Staaten 1979 La Paz auf die gleiche Weise Rückendeckung verschafft hatte. Ein Jahr zuvor hatte Bolivien seine diplomatischen Kontakte mit Chile beim Scheitern der Verhandlungen über seinen Zugang zum Meer abgebrochen. Für Chile sind die Grenzen zu Bolivien in dem Vertrag von 1904 festgelegt.

»Plötzlich gibt es keine andere kritisierbare Grenze in Amerika als die unsere mit Bolivien, plötzlich hat Bolivien allein Territorien an Chile verloren, plötzlich erscheint die Hochlandelite frei vom Staub ihrer Jahrhunderte von Missbrauch, Pfründen, Ausbeutung und Korruption, indem sie uns die Verantwortung aufhalst«, klagte kürzlich der immer polemische chilenische Schriftsteller Roberto Ampuero auf den Seiten der chilenischen Zeitung La Terzera an. Und er fügte hinzu: »Streng genommen versucht die Regierung von La Paz nur, mittels ihrer Forderungen nach einem Zugang zum Meer Zeit zu gewinnen, um sich nicht dem widmen zu müssen, was ins Auge sticht: eine marginalisierte Bevölkerung, diskriminiert, analphabetisch, ohne Arbeit, Gesundheitsversorgung und Erziehungswesen, die bereits nichts mehr erhoffen kann. Bolivien sitzt auf einem sozialen Pulverfass, und seine Elite zeigt bereits mit dem Finger auf den angeblich Verantwortlichen. Sie ist eine schrille, egoistische und unverantwortliche Elite: Sie hat ihre Bevölkerung überzeugt, dass der Zugang zum Pazifik gleichbedeutend mit Entwicklung und Prosperität ist.«

»Diese Forderung drückt zuallererst die Absicht aus, jeden revolutionären Versuch, jede revolutionäre Entwicklung in Bolivien zu dämpfen und in den gebührenden Grenzen zu halten«, erklärte seinerseits am 11. Dezember ein Beteiligter am Forum von Indymedia-Chile. »In Wirklichkeit ist das erste, was dieses verflixte Establishment bei jeder Krise, bei jedem großen Ausbruch gesellschaftlichen Bewusstseins (…) manipuliert, die berühmte Forderung nach ›Zugang zum Meer für Bolivien‹. Als ob ein Zugang zum Meer die Probleme der Leute lösen würde. Dass unsere Brüder aus der bolivianischen Bevölkerung nicht sehen, dass ihnen der Kopf mit billigem Chauvinismus vollgestopft wurde, gleichermaßen wie im chilenischen Staat und überall auf der Welt!«

In den letzten Monaten ist die Isolation Chiles im lateinamerikanischen Kontext unangenehm aufgefallen. Handelsabkommen mit der Europäischen Union, Südkorea und zuletzt mit den Vereinigten Staaten haben dieses Land als Avantgarde des Status quo ausgezeichnet. Am 1. Januar 2004 ist das umstrittene Abkommen zwischen Washington und Santiago in Kraft getreten. Kurz vor Weihnachten erklärte hierzu ein Beteiligter auf Indymedia-Chile: »An diesem Tag werden für uns die Würfel gefallen sein, für uns, die wir mit unserem Schweigen die schlechte Regierung stützen, die für andere regiert. An diesem Tag wird der Unternehmer feiern, und der Arme wird mit seinem alkoholisierten Bewusstsein auf das neue Jahr anstoßen. Im Grunde weiß er, was das bedeutet: eine Stunde weniger Schlaf, ein Extrakredit, um jene Wunder zu bezahlen, die uns die ›Erste Welt‹ überlässt, und um die Schulden zu bezahlen, die die Mächtigen aufnehmen.«

Indessen setzt Washington seine Offensive mit der Freihandelszone von Alaska bis Feuerland (FTAA oder Alca) fort, eine Art geopolitischer und ökonomischer Block, der von der nach dem Kalten Krieg einzig übrig gebliebenen Supermacht abhängig ist; noch vor 2005 soll die Freihandelszone in Kraft treten.

Im Jahr 2002 erteilte George W. Bush dem Projekt einen grundlegenden Schub mit der vom US-Kongress gewährten Fast-track-Autorisierung, die den US-Präsidenten berechtigt, bilaterale Handelsverträge ohne das Erfordernis einer Debatte im Kongress auszuhandeln. Gemäß René Baez, Ökonom und Professor an der Katholischen Universität von Quito in Ecuador, ist es das Ziel Washingtons, »die US-amerikanische Rezession zu bekämpfen; den europäischen Einfluss in der Region einzudämmen und den Mercosur (aus Argentinien, Brasilien, Uruguay und Paraguay, mit den assoziierten Ländern Bolivien, Chile und seit kurzem Peru) zu neutralisieren; und in den Wirtschaftsverhandlungen den modernisierten nordamerikanischen Militärinterventionismus in unserem Südamerika zu tarnen«.

Claudio Katz, argentinischer Wirtschaftswissenschaftler aus der Gruppe »Linke Ökonomen«, sieht die US-amerikanische »Garotte« hinter den Handelspakten: »Seit einigen Jahren erschüttert eine Reihe von Volksrebellionen viele Länder in Lateinamerika. Diese Bewegungen verweisen auf die Erosion verschiedener politischer Systeme, die aus ihrer Unfähigkeit, die Forderungen der Bevölkerung zu befriedigen, an Legitimität verloren haben. Das mangelnde Vertrauen in die institutionellen Ordnungen schlägt sich nieder in der Unterbrechung der Mandate (Peru), der Auflösung von Regierungen (Ecuador), dem Kollaps von Staaten (Kolumbien) und der Desintegration traditioneller Parteien (Venezuela). Über die Alca wird beabsichtigt, die verdeckte Militärintervention der USA in Kolumbien, die mit dem ›Kampf gegen den Drogenhandel‹ verbundene regionale Aufrüstung und den diplomatischen Druck zu verstärken, um die lateinamerikanischen Regierungen auf Sanktionen gegen die vom Weißen Haus dämonisierten Länder auszurichten.«

Bei diesem Stand der Dinge dürfte es den lateinamerikanischen Regierenden schwer fallen, ruhig zu schlafen. Die fröhliche Rebellion kann der Macht noch immer ihre ausschweifenden Orgien der Gewalt verderben.